Ein Kampagnen-Aufruf von …ums Ganze!
Die Krise ist vorbei. Sagen Politik, Finanzmärkte und Medien. Die jüngsten Reden über das Ende der Krise sind zwar unübersehbar ideologischen Charakters, Ausdruck des Wunsches nach wieder geordneten Verhältnissen. Doch auch das schafft – »Alle reden vom Kapitalismus, wir machen ihn« – handfeste Realitäten. Hektisches Notfallhandeln der Politik gehört aus diesem Grund vorerst der Vergangenheit an, selbst wenn in der Wirtschaft der Eurozone noch längst nicht wieder business as usual herrscht. Im gleichen Maße schwindet damit jedoch die Möglichkeit, die jüngste Krise des Kapitalismus für die Verbreiterung emanzipatorischer Positionen zu nutzen. Der von den unterschiedlichen sozialen Bewegungen vorgebrachte Hinweis auf die vom Kapitalismus produzierten Verwerfungen und Katastrophen ist und bleibt richtig, nur folgt daraus kaum mehr der Hauch einer Veränderung. Dass der Kapitalismus in aller Munde und seine Kritik billig zu haben ist, ändert daran nichts. Unklar bleibt nämlich, was die Konsequenz sein müsste. Staat und Staatsapparate hingegen feiern europaweit fröhliche Auferstehung, konnten sie sich doch erfolgreich als souverän handelnde Schadensbegrenzer und Bewahrer nationaler Interessen profilieren. Wenn das Unwohlsein an der herrschenden Politik derzeit überhaupt einen deutlichen Ausdruck findet, dann einen nationalistischen und rassistischen, wie jüngst bei den Europawahlen. Und auch die zumindest noch einigermaßen offene Situation in Griechenland kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Schlacht um die Deutung der Krise im Wesentlichen geschlagen und die Wiederherstellung des kapitalistischen Normalvollzugs auf einer anderen Ebene in vollem Gange ist.
Austerität als Lebensform
Mit dem proklamierten Ende der Krise ist in Europa die Illusion verflogen, an den Vorkrisenzustand anknüpfen zu können. Stattdessen hat sich ein neues ökonomisches Regime herausgebildet, eine veränderte Ordnung auf niedrigerem Niveau. Die Folgen tragen die Lohnabhängigen, Arbeits- und Besitzlosen. Gut für den Kapitalismus, eine Katastrophe für die Menschen. Aktuell folgt daraus vor allem eins: mehr Angst, mehr Ohnmacht, mehr Elend. Denn die Lösung der Krise bedeutet die Vergesellschaftung der Krisenkosten. Die Kommodifizierung der Reproduktion bei gleichzeitiger Retraditionalisierung der Geschlechterverhältnisse ist die Konsequenz: In Griechenland bekommt seine Medikamente nur noch, wer viel Geld hat, die meisten Studierenden wohnen wieder bei ihren Eltern, und die Pflege der Alten und Kranken wird noch stärker als vor der Krise von den Familien, vor allem von Frauen geschultert. Das betrifft nicht nur Griechenland, sondern auch zahlreiche andere Länder Europas, in denen die »erfolgreiche« Krisenpolitik der Europäischen Union und ihrer wirtschaftsstarken Staaten soziale Katastrophen produziert hat.
Mit dem Ende der Krise wurde »Austerität« für den Süden des Kontinents zu einer dauerhaften Lebensform: politisches Diktat durch die EU-Kommission, rücksichtslose Kürzungs- und Privatisierungsprogramme, Not und Unsicherheit für Millionen. Die konkreten, realen kapitalistischen Verhältnisse des Jahres 2014 halten für viele nur ein prekäres Leben bereit und sabotieren das gute Leben. Aus diesem Grund wollten wir eigentlich am 11. Juli gegen den EU-Gipfel zu Jugendarbeitslosigkeit in Turin auf die Straße gehen. Die EU hat das zynische Event allerdings kurzfristig abgesagt hat, vermutlich aus Angst vor Randale. Unseren Protest gegen die auf Dauer gestellte Austeritätspolitik werden wir bei nächster Gelegenheit nachholen. Zusammen mit vielen Genoss*innen aus vielen Ländern und ganz gleich ob und in Turin, Brüssel oder Berlin.
Deutsche Dominanz
Der gesamteuropäische Traum von Europa war es, die global führende Wachstumszone zu werden. Und einen kurzen historischen Moment lang schien es, als würden alle EU-Staaten davon profitieren. Die Kredit- und Staatsschuldenkrise hat all das als Illusion offenbart. Die Nationalstaaten der EU konkurrieren noch immer gegeneinander, und diese Konkurrenz drohte die EU zeitweise zu sprengen. Für Deutschland und Österreich hingegen scheint trotz Krise alles rund zu laufen: Exporte, Jobs, Kulturnation – überall sind sie ganz vorne mit dabei. Und selbst für die Abgehängten gibt’s hier immer noch Stütze, Mindestlohn und Minirente. Der große Kahlschlag hat hier in der Krise nicht stattgefunden, verglichen mit dem Rest der EU sind Deutschland und Österreich die klaren Krisengewinner. So einen Triumph gab’s natürlich nicht umsonst. Schon vor der Krise hatten beide Staaten die neoliberalen Daumenschrauben angezogen: Bildungssysteme wurden auf Verwertbarkeit getrimmt, Arbeitslose strenger diszipliniert, ungesicherte Kurz- und Leiharbeitsmodelle rasant ausgebaut, die Gesundheits- und Rentensysteme weiter privatisiert. Über die Wettbewerbspolitik der EU wurde dieses marktradikale Programm auf den ganzen Kontinent ausgeweitet – meist bei viel schlechteren Ausgangspositionen für die betroffenen Länder auf dem Weltmarkt. Die Ausweitung ist dabei nicht einfach das Ergebnis eines neuen deutschen Imperialismus, vielmehr hat sich die »deutsche« Form der kapitalistischen Herrschaftssicherung auch in den Augen der europäischen Eliten vorerst als erfolgreich erwiesen. Die Krise wird genutzt, das deutsche Modell auch lokal durchzusetzen, was zuvor gegen lokale Widerstände nicht möglich war. Somit bewährt es sich derzeit als europäisches. Was den deutschen Staat und seine Nation nur umso hassenswerter macht. Am 3. Oktober gehen wir daher in Hannover aus Anlass der dort stattfindenden Einheitsfeierlichkeiten und Selbstabfeierei unter dem Motto »Was ihr feiert: Armut, Ausgrenzung, Leistungszwang« auf die Straße.
Kapitalismus im Handgemenge
Auch wenn das Auseinanderbrechen der EU vorerst vom Tisch sein dürfte, stecken Deutschland und die EU auch nach der wirtschaftlichen Krise der letzten Jahre in einer politischen Zwickmühle. Sie müssen die Schuldnerstaaten einerseits unter allen Umständen am Leben halten, ohne dabei andererseits ihre neoliberalen Glaubenssätze zu verraten und damit das »Vertrauen der Märkte« zu verlieren. Die Lösung ist eine Doppelstrategie marktradikaler Reform und kapitalfreundlicher Geldpolitik. Beispiel Griechenland: Die sogenannte Troika – ein Gremium aus EU-Kommission, Europäischer Zentralbank (EZB) und Internationalem Währungsfonds (IWF) – macht durchgreifende Kürzungs- und Privatisierungsvorgaben und überwacht deren Umsetzung vor Ort. Wenn nicht entlassen und »modernisiert« wird, gibt’s keine Stützkredite. Gleichzeitig versucht die EZB, die Zahlungsfähigkeit der Peripheriestaaten zu sichern und den Kreditfluss wieder in Gang zu bringen, indem sie die Privatbanken mit billigem Geld versorgt und dafür wackelige Staatsanleihen als Sicherheiten akzeptiert. Resultat: die Infrastruktur wird privatisiert, staatliche und kommunale Leistungen werden gestrichen, die Löhne sinken, die Kreditrisiken werden jedoch vergesellschaftet. Deshalb versuchen andere Krisenstaaten mit allen Mitteln, dem Austeritätsdiktat der Troika zu entgehen – indem sie die geforderten neoliberalen Reformen gleich in Eigenregie durchziehen. Denn die EZB steht nicht nur symbolisch für den angeblich alternativlosen Sachzwangscharakter der gegenwärtigen kapitalistischen Verhältnisse europäischen Zuschnitts. Sie steht ganz praktisch sowohl für die Durchsetzung der Krisenpolitik als auch für eine kapitalfreundliche Geldpolitik und ist somit für die sozialen Verwüstungen und Katastrophen in Europa der letzten Jahre wesentlich mitverantwortlich. Aus diesen Gründen werden wir am Tag X Anfang 2015 zusammen mit Genoss*innen aus ganz Europa die geplante Eröffnung des neuen EZB-Hauptsitzes in Frankfurt zum Desaster machen – in Anwesenheit der versammelten Prominenz des Europas des Kapitals.
Rassismus und Sozialchauvinismus
Nicht nur im Süden Europas, auch im Norden macht der Kapitalismus keine Versprechungen mehr, außer dem einen: wer sich nicht anpasst, geht unter. Gleichzeitig sprießen – nicht erst seit der Europawahl im Mai 2014 – quer durch Europa Nationalismus, Rassismus und Sozialchauvinismus – mal aus der Mitte der Gesellschaft, mal rechtspopulistisch, mal offen neofaschistisch. Auch die staatstragenden Parteien aller Länder haben ihr eigenes, jahrzehntelang propagiertes kosmopolitisches Europa- und Weltgesellschaftspathos aufgegeben und durch eine mehr oder minder offen nationale Rhetorik ersetzt. Damit gehen neue nationalstaatliche Abschottungen und andere Versuche einher. Durch technokratische und autoritäre Politik soll souveräne Handlungsmacht demonstriert werden, um damit im Chaos wenigstens etwas staatsmännische Übersicht zu simulieren. Typisch dafür ist etwa die rassistisch und sozialchauvinistische Diskussion über die Einwanderung bulgarischer oder rumänischer EU-Bürger*innen, bei der antiziganistische Ressentiments bedient werden. Die realen gesellschaftlichen Bedrohungen kommen aus der Mitte der Gesellschaft, die sich im Zuge des Überbietungswettbewerbs von etablierten Parteien und rechtem Rand nach rechts verschiebt. Im Januar 2015 werden wir daher gegen den Wiener Akademikerball, eines der größten Vernetzungstreffen deutschsprachiger und europäischer Rechtspopulist*innen, in Wien protestieren – und zu verhindern versuchen.
Ich möchte Teil einer wirklichen Bewegung sein
Die Krise ist keine bloß ökonomische Angelegenheit. Die nun auf Dauer gestellten Folgen des Austeritätsregimes durchziehen jeden Winkel der Gesellschaft und jedes einzelne Leben. Das hat Konsequenzen für alle linksradikale Politik: Wir müssen von nun an jeden politischen Kampf als einen Kampf ums Ganze führen. Unter anderem gilt es daher die Institutionen, die die Sachzwänge exekutieren und auf alle Ewigkeit verlängern wollen, in Zukunft stärker zu konfrontieren und in ihrer Vollstreckerrolle anzugreifen. Doch wir wissen auch, dass diese Aktionen letztlich wirkungslose Eventmobilisierungen und Symbolik bleiben, wenn sie sich nicht stärker transnational in soziale Kämpfe einfügen und im Alltag verankern. Denn jeder Riot ist nur so gut, wie die soziale Organisierung, die hinter ihm aufscheint. Unsere Aktionen dienen dem Zweck, die herrschende Ideologie aufzuzeigen und zu diskreditieren. Das ist eine der Voraussetzungen dafür, dass die Diskussion um gesellschaftliche Alternativen aufgenommen und praktisch gemacht werden können. Angesichts des enormen gesellschaftlich produzierten Reichtums erscheint die radikale Umverteilung und Reduzierung von Arbeit so nah wie nie. Doch sie sind durch die Form der kapitalistischen Produktion und ihre politische Regierung nicht nur ideologisch verstellt. Eine gesellschaftliche Alternative zu Arbeitszwang, Verelendung sowie rassistischem und sexistischem Normalvollzug verdient ihren Namen daher nur, wenn sie weder Ausdruck einer lokalen Elendsverwaltung noch linker Realitätsverweigerung ist. Sie muss als eine realexistierende Exitstrategie gedacht und grenzübergreifend beschritten werden – um auf gesamtgesellschaftlicher Ebene aus dem Alptraum von Staat, Nation, Patriarchat und Kapital ausbrechen zu können. Dafür ist zu klären, welche Formen der Selbstorganisation und Autonomie in welcher Weise Teil einer Aufhebung des schlechten Bestehenden sein können, wie wir also praktische Schritte in die richtige Richtung gehen können, ohne den Weg vorzugeben oder zu kennen.
Der technokratischen Drohung mit einem Leben im ständigen Wettbewerb wie auch der reaktionären Sehnsucht nach den guten alten Zeiten von Sozialstaat und Vollbeschäftigung setzen wir daher die Entwicklung einer gemeinsamen, solidarischen Perspektive entgegen. Wenn es irgendwann mal fertig ist, werden wir es vielleicht Kommunismus nennen: kein Ideal, nach dem sich die Wirklichkeit zu richten hatte, sondern eine wirkliche Bewegung, welche den gegenwärtigen Zustand aufgehoben und überwunden hat. Diese Bewegung gilt es zu entwickeln – denn kein höheres Wesen wird uns diese Aufgabe abnehmen.
- 3. Oktober 2014, Hannover: Gegen die Einheitsfeierlichkeiten: „Was ihr feiert: Armut, Ausgrenzung, Leistungszwang“
- Januar 2015, Wien: Gegen das Treffen der europäischen Rechten: Den „Wiener Akademikerball“ verhindern!
- Tag X (Anfang 2015), Frankfurt: Gemeinsam mit Genoss*innen aus ganz Europa die geplante Eröffnung des neuen EZB-Hauptsitzes in Frankfurt zum Desaster machen
…ums Ganze!, Juli 2014