Imagine there’s no countries /It isn’t hard to do / …

Here we go again: Endgültige Anmerkungen zur These einer “deutschen Spezifik” nationaler Ideologie

Wie in den vergangenen Jahren auch, haben linksradikale Gruppen gegen die diesjährigen Staatsfeiern zum Tag der deutschen Einheit mobilisiert (1.-3. Oktober, Bonn). (1) Das umsGanze!-Bündnis, dem wir als Berliner Gruppe angehören, hat mit Diskussionsveranstaltungen und Vorabenddemo einen antinationalen Akzent gesetzt. Der Demo-Aufruf The only PIIG’S the system befasst sich vor allem mit Krisenpolitik und Krisennationalismus in Deutschland und Europa. (2) Antideutsche Gruppen haben einen zweiten Aufruf veröffentlicht, der sich explizit gegen den antinationalen wendet. Das Demo-Bündnis und umsGanze! unterschlügen eine spezifisch deutsche, nämlich völkische Formierung des hiesigen Nationalismus. Ihr eigener Aufruf Imagine there’s no Deutschland gipfelt in der – nicht ganz zwingenden – Unterstellung: “Wer behauptet, Deutschland habe nie einen Sonderweg beschritten oder ihn mittlerweile verlassen, kommt nicht drumherum, Auschwitz und seine Folgen im völkischen Nationalismus zu leugnen, zu verharmlosen oder zu relativieren.” (3) Vergleichbares wurde in Artikeln und Interviews formuliert (4), und bereits 2010 in Bremen lautete der antideutsche Vorwurf: “linker Geschichtsrevisionismus”.

Was für Außenstehende wie ein Zwist zwischen Judäischer Volksfront und der Volksfront von Judäa erscheinen muss (5), ist theoretisch und politisch keineswegs trivial. Nationalismus ist die prägende Ideologie der kapitalistischen Epoche, eine “objektive Gedankenform staatsbürgerlicher Kollektive”. (6) Das Verständnis seiner ideologischen Funktionalität, seiner Alltäglichkeit und seiner wiederkehrenden Exzesse ist entscheidend für den Zuschnitt linksradikaler Strategie. Der Imagine-Aufruf nimmt für sich in Anspruch, zumindest den hiesigen Nationalismus einer besonders konkreten und rigorosen Kritik zu unterwerfen. Ausgehend von der Singularität des deutschen Menschheitsverbrechens der Shoah unterstellt er ein spezifisch deutsches, von allen anderen Nationen wesentlich unterschiedenes Staatsprogramm, das historisch tief gründe und über den NS hinaus bis heute fortlebe. Antinationale Kritik wird dem gegenüber als naive, undifferenzierte Haltung denunziert, die auf eine oberflächliche Zivilisierung des deutschen Nationalismus hereinfalle. Wir möchten knapp erklären, warum dem nicht so ist. Anders als fortwährend unterstellt, ignoriert antinationale Kritik keineswegs die besondere Geschichte und Struktur des deutschen Nationalismus. Sie hat nur aus guten Gründen ein anderes Verständnis von Kontinuität und Wandel des Ideologischen, und setzt deshalb andere politische Prioritäten.

Völkischer Nationalismus – Nationalcharakter oder ideologischer Reflex?

Ohne Zweifel ist der gegenwärtige deutsche Nationalismus von völkischen Motiven durchsetzt. Schon der demokratische Alltagsnationalismus setzt eine Art natürliches Privileg der autochtonen Mehrheitsgesellschaft voraus. Doch es macht einen Unterschied ums Ganze, ob man diese Phänomene in erster Linie als Ausdruck eines historisch durchhaltenden Nationalcharakters deutet, oder als ideologische Reflexe aktueller Konfliktlagen und Widersprüche kapitalistischer Vergesellschaftung. Zweifellos unterscheidet sich Deutschland durch eine eigentümliche Geschichte und entsprechend eigentümliche Institutionen und Narrative von anderen kapitalistischen Nationalstaaten. Gerade in Hinblick auf den NS wurde die Bedeutung einer nachholenden, staatlich gelenkten kapitalistischen Modernisierung herausgearbeitet, die Affinität eines autoritären Korporatismus zum reaktionären Kollektivismus der Volksgemeinschaft. Das Selbstmissverständnis des Imagine-Bündnisses liegt nun darin, solche Affinitäten als Ausdruck eines durchhaltenden deutschen Wesens zu verallgemeinern, und darüber die Bedeutung politischer wie intellektueller Kämpfe auszublenden. Völkisches Bewusstsein erscheint nur noch als schicksalhafte Widerspiegelung einer tiefgründigen Identität, und nicht mehr als überschießende Projektion, als prekäre ideologische Aufhebung der unverstandenen Widersprüche und Bedrohungslagen kapitalistischer Vergesellschaftung hier und heute. (7) Damit wird das völkische Ursprungs- und Identitätspostulat letztlich für bare Münze genommen. Die unterstellte Kontinuität eines deutschen Nationalcharakters wird zirkulär und idealistisch begründet, mit vagen Verweisen auf reaktionär-kollektivistische “Vorstellungen” und “Traditionen” seit Luther. Materialistische Bestimmungsmomente werden gar nicht erst erörtert, etwa die korporatistischen Elemente des deutschen Sozialversicherungswesens, der Gewerkschafts- und Betriebsverfassungsgesetze, oder die spezifische Struktur des nationalen Industriekapitals. Dabei ist gerade der Verweis auf Traditionen ein typisches Element bürgerlicher Ideologie. Fast alle nationalen Traditionen sind Erfindungen des 19. und 20. Jahrhunderts. Sofern sie heute noch verfangen, sind dafür gegenwärtige Vergesellschaftungsbedingungen ausschlaggebend. Traditionen haben Konjunktur, wo gesellschaftliche Widersprüche kompensiert werden müssen, nicht wo Identität herrscht.

Die Postnazismus-These als Ticket

Die Hypothese des Völkischen als durchhaltender deutscher Spezifik verliert weiter an Plausibilität, sobald man sich die traurige Realität des völkischen Nationalismus in anderen Ländern vergegenwärtigt. Die viel bemühte idealtypische Unterscheidung zwischen republikanisch-liberalem und reaktionär-kollektivistischem, “deutschem” Staatstypus hat historisch ihr begrenztes Recht. Andererseits verunklärt sie gerade den inneren Zusammenhang liberal-kapitalistischer Ordnung und völkischer Ideologie, den Umschlag schutzloser Individualität in aggressiven Kollektivismus. In ausnahmslos allen entwickelten kapitalistischen Staaten hatten völkische und antisemitische Ideologien eine Massenbasis, und in vielen wurden sie Staatsgewalt. Das mag angesichts der Shoah und ihres spezifischen Irrationalismus unwichtig erscheinen, ist für ein Verständnis nationalistischer Konjunkturen aber wesentlich. Hier und heute spricht jede Evidenz gegen eine starke Version der antideutschen Sonderwegsthese: seit Ende des zweiten Weltkrieges haben sich die kapitalistischen Entwicklungspfade in Westeuropa merklich angeglichen; seit dem Fall des Ostblocks verschärfen sich in allen europäischen Staaten ethnisch-nationalistische Tendenzen; seit Ausbruch der Krise sind in zahlreichen europäischen Staaten rassistische, antisemitische und vor allem antiziganistische Übergriffe und Pogrome zu beklagen. Offenbar sind derzeit andere Nationalismen sogar deutscher als der hiesige.

Dass der Imagine-Aufruf all das ausblenden kann, verdankt er einer äußerst schematisch ausgelegten Postnazismus-These. Auch der Begriff des Postnazismus (früher: Postfaschismus) ist nicht gegenstandslos. (8) Wie die Autor*innen zutreffend erläutern, sollte er deutlich machen, dass “die nachnationalsozialistischen Demokratien Deutschland und Österreich Struktur- und Ideologieelemente des Nationalsozialismus modifiziert in sich aufgenommen” haben, über die selbstgefällig proklamierte “Stunde Null” hinaus. Doch der Begriff Postnazismus hat seine eigene problematische Geschichte als antideutsches Volksvorurteil. Seinen kritischen Gehalt hat er darüber fast gänzlich eingebüßt. Anstatt differenzierte Analysen über die gegenwärtige Zusammensetzung des deutschen Nationalismus anzuleiten, wurde er zum universellen Kampfbegriff und theoretischen Taschenspielertrick: Mit etwas dialektischem Training kann jede Erscheinungsform des deutschen Nationalismus (und ihr Gegenteil) spielend als postnazistisch subsummiert werden, und damit als in völkischer Kontinuität stehend – selbst wenn es sich um vergleichsweise konventionelle nationale Politiken und Ideologeme handelt.

Dass unter solcher Voreingenommenheit die politische Urteilskraft leidet, zeigt sich im Imagine-Aufruf unter anderem an der Bewertung von Ein-Euro-Jobs, die hier als Ausdruck eines spezifisch deutschen, also postnazistischen Arbeitsbegriffs verurteilt werden. In Wahrheit sind Ein-Euro-Jobs eine relativ späte Kopie des angelsächsischen Workfare-Prinzips, und reflektieren in ihrer gesetzlichen wie ideologischen Struktur nur den allgemeinen kapitalistischen Fetisch der Lohn- und Leistungsgerechtigkeit. Auch der aktuelle deutsche Krisennationalismus lässt sich ohne spekulative Postnazismusthese als opportunistische Ideologie einer führenden Exportnation entschlüsseln. Und selbst die Ideologeme des deutschen Gedenkens zwischen Verdrängung, Relativierung und Aufarbeitungsstolz folgen im Großen und Ganzen den auch anderswo üblichen narzisstischen Impulsen.

Der neue kategorische Imperativ nach Auschwitz

Die Fixierung des Imagine-Aufrufs (und vieler anderer antideutscher Bekenntnisse) auf die vermeinte Spezifik des deutschen Nationalismus macht ihn blind und sprachlos gegen die dumpfe Brutalität des Kapitalismus im Weltmaßstab, von seinen aktuellen killing-fields ganz zu schweigen. Damit verfehlt der Aufruf seinen eigenen Maßstab, Gesellschaft von Auschwitz her zu denken. Der kategorische Imperativ nach Auschwitz, wie ihn Adorno formulierte, verlangt gerade nicht, Auschwitz als politisches Mantra einzusetzen. Er verlangt, »Denken und Handeln so einzurichten, dass Auschwitz nicht sich wiederhole, nichts Ähnliches geschehe«. (9) Das ist ein universalistischer Appell, ein Aufruf zu einer kritischen Theorie der Gesellschaft in praktischer Absicht, zu antikapitalistischer Praxis. Seine Dringlichkeit ergibt sich aus der Einsicht, dass die Systemzwänge kapitalistischer Verwertung immer wieder ideologisch eskalieren, dass der Umschlag von Verwertung in Vernutzung und Vernichtung eine reale Gefahr bleibt, gerade in Zeiten kapitalistischer Krisen auf globaler Stufenleiter. Ob diese ideologische Eskalation verhindert werden kann, ob die kapitalistische Fatalität nicht etwa doch durchbrochen werden kann, entscheidet sich in politischen Tageskämpfen hier und heute.

TOP B3rlin (Oktober 2011)

(1) http://friede-freude-eierkuchen.net

(2) Das Akronym PIIGS entstammt dem europapolitischen Jargon und bezieht sich auf die vermeintlichen “Schuldensünder” Portugal, Italien, Irland, Griechenland und Spanien.

(3) http://imaginenodeutschland.blogsport.de/aufruf

(4) Freies Sender Kombinat: Was bedeutet der 3. Oktober. In: Transmitter 10 (2011), 4f.; Imagine-Bündnis: Imagine there’s no Deutschland, Radiointerview im FSK (26.9.2011), http://www.freie-radios.net/43350; Justin Monday: Antinationale Interessen. beatpunk-Webzine (2.10.2011), http://www.beatpunk.org/stories/antinationale-interessen/; Imagine-Bündnis: Rund 700 Menschen in Bonn (Nachbereitungstext), http://imaginenodeutschland.blogsport.de/

(5) Vgl. Monty Python’s Life of Brian (1979), http://www.youtube.com/watch?v=7aBwSZTiqqI
(6) Vgl. …umsGanze: Staatsbroschüre (2009), https://www.umsganze.org/media/Staatstext_web.pdf
(7) Ein beiläufiger Hinweis auf die Funktion nationalistischer Ideologie, die “Widersprüche der gesellschaftlichen Modernisierung zu glätten”, bleibt im Imagine-Aufruf konzeptionell bedeutungslos.
(8) Vgl. Clemens Nachtmann: Nationalsozialismus und Postfaschismus (1994); Uli Krug: Der Fall Deutschland – Sonderweg oder Exempel? Bahamas 18 (1995), 34-40; Autorenkollektiv: Zur Theorie des deutschen Sonderwegs. Bahamas 17 (1995), 24-31
(9) Theodor W. Adorno: Negative Dialektik (1966), 358

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