Die Öffentlichkeit blickt mit einer Mischung aus Entsetzen und Faszination auf die Entwicklung der Konjunkturdaten. Fachthemen von »Börsianern« und anderen Wirtschaftsmeteorologen wie Aktienindizes, Staatsschuldenstände und Kreditrisiken berauschen das Publikum. Wenn selbst in Europa Banken pleite gehen und Staaten zahlungsunfähig werden – und nicht nur in »Schwarzafrika« oder wo sonst der Pfeffer wächst –, dann verbreiten sich sogar hierzulande Zweifel an der »Nachhaltigkeit« der herrschenden Gesellschaftsordnung.
Doch auch in weniger krisenhaften Zeiten ist der Kapitalismus Quell beständiger Unsicherheit, Armut und Erpressung. Die derzeitige Krise ist kein bloßer Betriebsunfall, sondern Resultat der allgemeinen Prinzipien kapitalistischer Verwertung. Die Tendenz zu übergreifenden ökonomischen Krisen ist im Kapitalismus selbst angelegt. Eine über anonyme Märkte vermittelte und gerade deshalb gnadenlose Konkurrenz zwingt das Kapital immer wieder zu riskanten, in der Regel kreditfinanzierten Investitionen, die sich im Nachhinein als unrentabel erweisen können. Das gilt für einzelne Kapitale, und um ein vielfaches verstärkt auch für ganze Branchen und Volkswirtschaften. Staat, Kapital und Lohnarbeit sind die grundlegenden Formen dieses Ausbeutungs- und Herrschaftsverhältnisses. Es wird tagtäglich von Menschenhand reproduziert, und kann deshalb auch von Menschenhand überwunden werden. Im Interesse einer nüchternen Lagebeurteilung rekapitulieren wir die gegenwärtigen Glanzleistungen der kapitalistischen Ordnung.
Immobilien und Obdachlosigkeit
Die akute globale Finanzkrise begann 2007 mit dem massenhaften Preisverfall amerikanischer Immobilien, die zuvor als sichere, weil »wertgedeckte« Investitionen angesehen wurden. Dadurch verloren zugleich die Hypothekenkredite, mit denen diese Immobilien finanziert worden waren, ihren sichernden »Gegenwert«. Kreditzinsen stiegen, und immer mehr Schuldner konnten ihre monatlichen Raten nicht mehr bezahlen. Die eingeleiteten Zwangsverkäufe führten Hunderttausende in die Obdachlosigkeit, während der fallende Marktwert ihrer Häuser nicht mehr ausreichte, um die aufgenommenen Schulden zu begleichen. Der Logik des Kapitalismus folgend, warten diese Häuser nun unbewohnt auf steigende Immobilienpreise, während ihre ehemaligen Eigentümer ihr Dasein in Zeltstädten fristen dürfen. Das umsGanze!-Bündnis gratuliert zur tollen Leistung des Privateigentums, nützliche Häuser vor wohnraumbedürftigen Menschen zu bewahren. Sauber!
Weltwirtschaftskrise und Systemrelevanz
Die amerikanische Immobilienkrise entwickelte sich zur Weltwirtschaftskrise, weil die Hypothekenbanken ihre – nun ausfallgefährdeten – Immobilien-Schuldtitel zu Wertpapieren gebündelt, und als vermeintlich sichere und renditeträchtige Anlageform an Banken in aller Welt verkauft hatten. Als klar wurde, dass es um die Zahlungsfähigkeit von Millionen Hypothekenschuldnern nicht zum besten steht, versuchten diese Banken, ihre plötzlich ebenfalls ausfallgefährdeten Wertpapiere umgehend abzustoßen, wodurch deren Kurse verfielen. Banken, die ihre Gewinnerwartungen maßgeblich auf diesen Wertpapierhandel gegründet hatten oder direkt an der Immobilienfinanzierung beteiligt waren, drohte damit ebenfalls die Zahlungsunfähigkeit. Der Kreditmarkt schrumpfte schlagartig. Im September 2008 begann mit der US-amerikanischen Investmentbank Lehman Brothers das große Bankensterben, weit über 100 Banken folgten alleine in den Vereinigten Staaten. Doch nicht alle insolventen Banken und Immobilienfinanzierer gingen bankrott. Die amerikanische Regierung handelte nach dem Prinzip »too big to fail«, und rettete 2008 Bear Sterns, Freddy Mac und Fanny Mae. Die Bundesregierung erkannte ebenfalls die »Systemrelevanz« der deutschen Hypo Real Estate, und verstaatlichte sie im Oktober 2009. Systemrelevant sind Banken, weil sie die Vergabe von Krediten organisieren, und so den kapitalistischen Unternehmen die Möglichkeit verschaffen, ihre Produktion schneller auszuweiten, als laufende Gewinne oder gar Verluste dies sonst zuließen. Eine tolle Leistung des Kapitalismus, die Produktion nützlicher Güter nur dann in Gang zu setzen, wenn das Kapital ausreichenden Profit erwartet, und nicht für die schnöden Bedürfnisse simpler Menschen!
Abwrackprämie und Freiheit
Um zu verhindern, dass dem Bankensterben eine Unternehmensster?ben folgt, verabschiedete man sich von den Glaubenssätzen liberaler Wirtschaftspolitik. Statt weiter auf die »Selbstheilungskräfte des Marktes« zu vertrauen, wurde mittels »Abwrackprämie« und anderer Konjunkturprogramme der Umsatz nationaler Schlüsselindustrien gestützt. Klamme deutsche Unternehmen bekamen im Zweifelsfall unbegrenzt staatliche Bürgschaften und Kredite zugebilligt. Zur Finanzierung dieser Maßnahmen bedurfte es der Erhöhung der Staatsschulden. Zur Beruhigung der Finanzmärkte wurde gleichzeitig ein hartes »Sparpaket« aufgelegt. Die Freiheit des Politischen erschöpfte sich also einmal mehr im Dienst am Standort. Das umsGanze!-Bündnis gratuliert zur pragmatischen Einsicht, dass das wirtschaftspolitische Geschwätz von gestern dabei niemanden mehr interessieren muss.
Wachstum und Gier
Während Regierungen zur Rettung nationaler Geschäftsbanken und Konzerne über Nacht Milliardensummen aufbrachten, suchte die Öffentlichkeit nach Schuldigen für die Misere. Die Bundeskanzlerin sah »Gier, verantwortungslose Spekulation und Missmanagement im Finanzsektor«. Die zuvor als Leistungsträger hofierten »tüchtigen« und »risikofreudigen« Manager galten schlagartig als maß- und heimatlose Zocker. Während sich die schwarz-rote Bundesregierung vor der Krise noch das Ziel gesetzt hatte, »überflüssige Regulierung abzubauen«, fordert nun ausgerechnet schwarz-gelb mehr »Regulation auf den Finanzmärkten, also die Regulierung der Finanzmarktprodukte und auch der Institutionen« (Merkel 2010). Es ist eine ideologische Großleistung, einerseits größtmögliches kapitalistisches Wachstum zu fordern, die dafür notwendige Skrupellosigkeit aber zu verurteilten. Das umsGanze!-Bündnis gratuliert der politischen Führung für diese Lektion in bürgerlicher Moral.
Sirtaki und Standort
Nicht alle Staaten stemmen die Krisenlasten wie Deutschland auf der Basis, Exportweltmeister zu sein. Griechenland etwa bekam nach seinem Eintritt in die Währungsunion im Jahr 2001 zu spüren, dass sein nationales Kapital mit der europäischen Konkurrenz nicht mithalten konnte. Die mittelständisch geprägte griechische Industrie verlor im verschärften Wettbewerb, so dass Griechenland immer mehr zum Absatzmarkt ausländischer Kapitale verkam. Der folgende, massive Anstieg des Haushaltsdefizits wurde jahrelang durch einfallsreiche Bilanzierungstricks kaschiert. Lediglich als »Finanzplatz« konnte Griechenland seine Einnahmen erhöhen, dank der neuen, vergleichsweise stabilen Euro-Währung. Doch aufgrund massiv einbrechender Staatseinnahmen im Zuge der aktuellen Krise kamen zunehmend Zweifel an der tatsächlichen Zahlungsfähigkeit Griechenlands auf. Das erschütterte vor allem die Nachfrage nach griechischer Staatsanleihen auf den internationalen Finanzmärkten, durch die dieser Staat sein Haushaltsdefizit ausgleichen und alte Staatsschulden refinanzieren musste. Aus Furcht, ein griechischer Staatsbankrott könne die europäische Währung und damit den Bestand der europäischen Freihandelszone gefährden, halfen EU und Internationaler Währungsfonds (IWF) mit Krediten und Bürgschaften aus. In der deutschen Öffentlichkeit wurde dieses milliardenschwere »Hilfspaket« als ungerechte Unterstützung fauler Bilanzbetrüger wahrgenommen, die Ouzo und Sirtaki lieber mögen als ehrliche Arbeit. Auf jeden Fall eine Spitzenleistung kapitalistischer Konkurrenz, dass die steigende Produktivität eines Landes andere Länder und Regionen in die Armut stürzen kann. Wenigstens im Prinzip können so aber auch entwickelte Staaten wieder in ökonomisches Niemandsland verwandelt werden. Herzlichen Glückwunsch dazu!
Arbeit und Ausbeutung
Nach verbreiteter Meinung kommt im Kapitalismus zu Wohlstand, wer im Schweiße seines Angesichts schaffen geht. Tatsächlich aber liegt die Quelle von Reichtum in dieser Gesellschaft in der Ausbeutung fremder Arbeitskraft für den eigenen privaten Vorteil. Kurz: Reich kann nur werden, wer andere für sich arbeiten lässt. Solche Lohnarbeit wird nur dann in Gang gesetzt, wenn sie sich fürs Kapital absehbar lohnt, d.h. wenn ihr Produkt mehr wert ist, als für dessen Herstellung an Lohn und Grundkosten aufgewendet werden muss. Ausbeutung ist im Kapitalismus also gerade kein Betrug an Lohnabhängigen, sondern Folge der derzeit herrschenden Ordnung gesellschaftlicher Arbeit. Auch hier wieder Hut ab! Produziert wird nicht nach den Bedürfnissen aller, sondern für den Profit weniger. Ansonsten bleiben die in dieser Gesellschaft Lohnabhängigen von Arbeit und Lohn getrennt, und damit von ihrem Lebensunterhalt.
Verwertungszwang und falsche Gegensätze
Der Zwang zur Verwertung, das »Geld verdienen des Geldes wegen« und das primäre staatliche Wirtschaftsziel kapitalistischen Wachstums sind die bestimmenden Prinzipien der gegenwärtigen Gesellschaftsordnung. Wie gesehen, stoßen Staat und Kapital dabei immer wieder an systemische Grenzen. Man sollte sich die Dummheit ersparen, ausgerechnet die dann notwendigen Versuche der Krisenbewältigung für die Krise selbst verantwortlich zu machen. Nicht (Neo-)Liberalismus oder Keynesianismus sind ursächlich für das gegenwärtige Übel, weder ein »zu viel an Markt« noch ein »zu viel an Staat«. Der grundsätzliche Fehler ist, dass im Kapitalismus der Zweck der gesellschaftlichen Produktion die Vermehrung des privaten Profits ist. Grund für die tägliche Misere sind weder »überhöhte Lohnkosten zu Lasten der nationalen Konkurrenzfähigkeit«, noch andererseits eine »zu geringe Kaufkraft der Lohnabhängigen« infolge zu geringer Löhne. Grund ist der Zwang der bürgerlichen Freiheit, das eigene Fortkommen gegen andere erringen zu müssen. Auch dazu herzlichen Glückwunsch!
Falsche Ordnung und das schöne Leben
»Selbstbestimmung«, das abstrakte Ideal der bürgerlichen Gesellschaft, ist nur im Rahmen einer bewussten und unmittelbar gesellschaftlichen Produktion des gesellschaftlichen Reichtums zu verwirklichen. Erst dann nämlich unterläge sie nicht mehr dem Diktat des Privateigentums und seiner staatlichen Ordnungsmacht. Unser Ziel ist eine Gesellschaft, in der Bedürfnisse und Genüsse Einzelner nicht länger in Widerspruch zu Bedürfnissen und Genüssen aller stehen. Das schöne Leben ist nur gegen die herrschende Gesellschaftsordnung zu verwirklichen, gegen den Verwertungszwang des Kapitals und gegen den Staat.