Die Feierlichkeiten zum 20. Jahrestag der „Wiedervereinigung“ in Bremen sind vorbei. Der Staat und seine Freunde wollten den bloßen Volkswillen feiern, der Mauern einstürzen ließ, und der den Deutschen einige Tage andauernden Gemeinschaftsgefühls ohne äußeren Feind bescherte. Längst gilt die Vereinigung Deutschlands als erste erfolgreiche und friedliche deutsche Revolution.
Das Bremer Bündnis gegen die Einheitsfeierlichkeiten und das „…ums Ganze!“-Bündnis wollen nun eine lange und intensive Mobilisierung auswerten. Mit dieser Auswertung wollen wir uns einerseits bei den Teilnehmer_innen unserer Veranstaltungen bedanken und der Unterstützung und dem Engagement zahlreicher Initiativen und Gruppen rechnung tragen. Andererseits wollen wir die Vermittelbarkeit unserer Anliegen beleuchten und einen Ausblick darüber geben, wie sich das von uns bearbeitete Thema in einen politischen Kontext stellen lässt und inwiefern sich für uns Interventionsmöglichkeiten bieten.
Die Bündnisdemonstration am 2. 10. 2010 unter dem Motto „Kein Tag für Deutschland. Kein Tag für die Nation“ war nicht alleiniger Ausdruck unserer politischen Praxis, sondern war in eine Kampagne eingebettet, die einen bundesweiten Workshoptag, mehrere Podiumsveranstaltungen zum modernen Nationalismus und eine Sonderausgabe der bundesweiten Jugendzeitung „Straßen aus Zucker“ umfasste.
Nun war uns schon im Vorfeld klar, dass sich mit der Kritik am Vergesellschaftungszusammenhang von Staat, Kapital und Nation kaum ein Blumentopf gewinnen lässt. Da wir allerdings weder Wiener noch Krakauer zu verschenken hatten, müssen wir davon ausgehen, dass es den 2500 Teilnehmer_innen unserer Demonstration ebenso wie uns ein Anliegen ist, eine radikale Kritik an Staat, Kapital und Nation auf die Straße zu tragen. Die Auseinandersetzung während der Workshops und auf den Podien zu der Frage der Besonderheit des deutschen Nationalismus und dem ideologiekritischen Hinterfragen von nationalen Events wie dem 3.10. hatte für uns ebenso eine starke Bedeutung wie die Demonstration selbst.
Über die Nation und ihre deutsche Ausprägung
Den Protesten gegen die Einheitsfeierlichkeiten haben wir eine Auseinandersetzung mit der Nation und ihrer deutschen Ausprägung vorausgeschickt. In mehr als 20 Veranstaltungen bundesweit wurde das Verhältnis der Nation als objektiver Gedankenform1 im Kapitalismus mit ihrer spezifisch deutschen Ausprägung diskutiert. Dabei ging es uns um eine Erklärung, weshalb der nationale Staat eine solche Anziehungskraft auf seine Untertanen ausübt. In den Diskussionen haben wir versucht, den Widerspruch zwischen antinationaler und antideutscher Kritik aufzunehmen und deutlich zu machen. Insbesondere bei der Abschlussdiskussion des Workshoptages am 11. 9. 2010 wurde gegenüber den Vertreter_innen der Initiative gegen jeden Extremismusbegriff (INEX) aus Leipzig und der Associacione delle Talpe (Bremen) betont, dass diese qualitative Veränderung des deutschen Nationalismus neben völkischen Zugängen nationaler Identität eben auch einen neuen, moderaten Verfassungs- und Standortnationalismus impliziert. Weil unsere antinationale Kritik aber schließlich den Kern treffen soll, muss eine Analyse des deutschen Nationalismus von einer allgemeinen Bestimmung des Nationalen ausgehen. Es muss die spezifische Funktion der Nation im warenproduzierenden Ganzen verstanden werden, da sonst die verschiedenen konkreten gesellschaftlichen Ausdrücke des Nationalismus zusammenhangslos nebeneinander stehen. Schließlich erklären sich auch die spezifischen deutschen nationalen Traditionen nicht abseits dieser allgemeinen Bestimmung des Nationalen.
Auch haben wir zu klären versucht, weshalb die Nation nicht ein reines Hirngespinst ist, dem mit Aufklärung beizukommen ist. Denn so sehr die Staatsbürger_innen am Binnen- (Arbeits-) Markt auch konkurrieren, so sehr hängen sie doch vom Wohlergehen des deutschen Kapitals in den erbitterten Schlachten der Weltmarktkonkurrenz ab. Allerdings verbietet sich der vorschnelle Fehlschluss, dass die Subjekte rein aus einem kalkulierten Interesse zu Fans der Nation werden. Vielmehr muss betont werden, dass die Identifikation mit der Nation als Projektion eine viel komplexere Funktion erfüllt als eine bloße Interessensgemeinschaft. Nationalismus ist eben keine unmittelbare Folge realer Abhängigkeit, sondern die objektive Gedankenform einer von Brüchen durchzogenen bürgerlichen Gesellschaft.
In Deutschland wurde ein ungebrochener positiver Bezug auf die Nation nach dem NS lange mit Verdrängung und Schuldabwehr assoziiert. Noch die geistig-moralische Wende Helmut Kohls 1982 galt als revanchistisch. Dies änderte sich erst unter rot-grün, als Deutschland als geläuterte Friedensmacht in aller Welt auftrat. Plötzlich war Deutschland eine Nation, auf die man gerade stolz sein konnte, weil sie die „zwei Diktaturen“ des 20. Jahrhunderts aufgearbeitet habe. Der Aufarbeitungsweltmeister ebnete den Weg zum medial inszenierten Partynationalismus von Lena, Poldi und Schland.
Deutschland macht mobil
Die aktuellen Debatten führen uns die Dynamik des Krisennationalismus vor. War noch im Sommermärchen der Fußball- WM der Nationalismus über die aufgeklärte, weltoffene und tolerante Karte angepriesen worden, so erfolgte nur wenige Monate später der Umschwung. Ausgelöst durch die sozialschauvinistischen und rassistischen Thesen Sarrazins brach eine Debatte über die Integrierbarkeit von Menschen mit arabischem und türkischem Migrationshintergrund los. Während der Weltmeisterschaft wurden mit Özil und Cacau in leistungschauvinistischer Manier diejenigen Migranten vorgeführt, die als Leistungsträger perfekt integriert waren. Dies galt jedoch schon da nicht für die sich zumeist in der Unterschicht wiederfindenden Migrant_innen. Konnten diese während der Weltmeisterschaft noch glauben, sich ihren Platz in der Gemeinschaft mit fleißigem Fahnenschwingen ergattern zu können, mussten sie nur kurz danach feststellen, dass lediglich der Dienst am deutschen Kapital die mögliche Anerkennung bedeutete. Darüber hinaus wurde in der öffentlichen Auseinandersetzung wieder mal eine rassistische-kulturalisierende Unvereinbarkeit insbesondere einer als homogen dargestellten islamischen Kultur mit der deutschen „Leitkultur“ heraufbeschworen.
Nationalismus in Facetten
Dies zeigt uns deutlich, wie wandelfähig und facettenreich der Nationalismus ist. Als die Finanzkrise losbrach, richtete er sich antisemitisch aufgeladen gegen heimatlose „Zocker“ und Spekulanten. Als es darum ging, die Berufung auf die Nation zu etablieren und Burgfrieden zu sichern, war „Schland“ zur Hand. In der Krisenbewältigung droht er den zumeist durch Einwanderer geprägten Unterschichten mit Ausschluß. Der Nationalismus hat seine Konjunkturen. Diese haben durchaus ihre Kontingenzen, passen sich aber sinnfälligerweise den aktuellen Bedürfnissen des kapitalistischen Normalbetriebs an. In unseren Diskussionen prallten diese Positionen zur richtigen Kritik an der Nation oft aufeinander: hier der Schland- Partynationalismus, dort das mögliche schnelle Umschlagen in den brutalen Ausschluß. Dabei stellen beide Pole keinen Widerspruch dar. Denn egal ob Partynationalismus oder Sozialchauvinismus: beide bilden mit unterschiedlichen Begründungsmustern Ausschlüsse. Wichtig ist, beide Konjunkturausschläge zusammen zu denken. Dabei ist zu betonen, dass die Nation am laufenden Band nicht nur Aus-, sondern auch und vor allem Einschlüsse produziert. Mit der Konstitution des nationalen Ausschlusskriteriums geht eine Homogenisierung nach innen einher, deren Funktion für den sozialen Frieden nicht unterschätzt werden sollte. Die Diffamierung von Migrant_innen als leistungsschwach und unproduktiv muss gegen den Strich gelesen werden und bildet die Negativfolie für die Konstruktion eines Idealbildes als leistungswilliger und selbstloser Staatsbürger. Deutschland ist eben sowohl Schland als auch Sarrazin.
Weiter, voraus
Der Nationalismus und die Analyse seiner Funktion und Wirkungsmacht scheint in der Linken ein alter Hut zu sein. Die Ereignisse des tagespolitischen Geschäfts zeigen jedoch, welche wandlungsfähigen ideologischen Formen daraus hervorgezaubert werden. Die Auseinandersetzung im Zuge der Aktivitäten gegen die Wendefeierlichkeiten ist der Notwendigkeit nachgekommen, den Nationalismus und seine aktuellen Ausprägungen zu analysieren, um eine antinationale Kritik an Staat und Nation auf Höhe der Zeit formulieren zu können. Es gilt immer wieder aufs Neue aufzuzeigen, dass er sich konjunkturbedingt mal scheinbar liberal und schwarz-rot-geil, allerdings auch oft naturalisierend- kulturalistisch, mal sozialchauvinistisch, mal offen rassistisch zeigt. Ebenso muss festgehalten werden, dass diese unterschiedlichen nationalen Deutungsmuster eben keine organische Symbiose bilden, sondern durchaus konkurrierende Ideologeme im nationalen Diskurs darstellen.
So marginalisert wir als radikale Linke auch sind: Als Erfolg lässt sich durchaus verbuchen, dass in der inhaltlichen Debatte im Vorfeld von Bremen die wichtige Diskussion um das Wesen der Nation und ihr Verhältnis zu seiner deutschen Ausprägung angemessen und umfangreich geführt und vorangebracht wurde. Die medial entworfenen Gewaltphantasien, zu welchen der Staat bis zu 3000 Polizisten ins Rennen geschickt hatte, bewahrheiteten sich dagegen nicht, ebenso wenig konnte die nationale Selbstinszenierung wirkungsvoll gestört werden. Dennoch konnten wir sowohl die Debatte innerhalb der radikalen Linken vorantreiben als auch eine grundsätzliche Kritik an Staat und Nation in die Öffentlichkeit tragen und als Nestbeschmutzer dem Staat an seinem Freudentag die Show zumindest ein wenig stehlen.
Halten wir es einfach:
Für ein Leben ohne Staat und Nation.
Für den Kommunismus.