Kein Tag für die Nation! Kein Tag für Deutschland!
Am 3. Oktober wird in Bremen die nationale Würstchenmeile aufgeschlagen. Superdeutschland begießt 20 Jahre Einheit, mit Angela, Christian und Nena. Es gibt zwar kein Freibier, aber wir kommen trotzdem. Wo Volk und Staat ihren Burgfrieden feiern, müssen wir eins klarstellen: Ihr könnt uns mal mit eurem Standort und eurem Gequatsche von »sozialer Marktwirtschaft«. Wir machen keinen Finger krumm, damit Deutschland »gestärkt aus der Krise hervorgeht«. Denn das heißt im Klartext bloß, dass jeder Winkel der Gesellschaft noch straffer durchrationalisiert wird. Härter konkurrieren, länger lohnarbeiten, weniger verdienen und immer unsicherer leben bis ans Ende aller Tage – das ist die deutsche Utopie nach dem »Ende der Geschichte« von 1989/90.
Kollaboration mit der Nation
Die Einheitsfeier ändert nichts an der alltäglichen Ohnmacht in den Mühlen von Staat und Kapital. Die Identifikation mit dem nationalen ›Wir‹ ist ein ideologischer Fluchtreflex vor dem Druck kapitalistischer Konkurrenz und Vereinzelung, aber zugleich ihr bestes Schmiermittel. Egal ob Deutschland »schwarz-rot-geil« oder kulturbeflissen feiert, abgerechnet wird werktags, wenn die großen Gefühle verrauscht sind, und der Standort seine Ansprüche diktiert. Ansprüche, die vom vermeintlichen Souverän, dem Volk, klaglos akzeptiert werden.
Der deutsche Nationalfeiertag entspricht dieser Haltung haargenau. Der 3. Oktober ist ein bürokratischer Stichtag, an dem die DDR 1990 »dem Geltungsbereich des Grundgesetzes« beitrat. Sonst passierte nichts. Es wurde keine Stasi-Zentrale gestürmt, keine Mauer überrannt oder sonst irgendwas. Gefeiert wird keine spontane Eruption gegen die Zumutungen gesellschaftlicher Herrschaft, kein revolutionärer Anschlag auf zwanghafte Verhältnisse, die zuvor unüberwindlich schienen. Gefeiert wird das Versprechen des deutschen Staates, seine BürgerInnen vor den Stürmen des kapitalistischen Weltmarkts zu schützen, die Deutschland und die Deutschen als Exportweltmeister ständig selbst mit entfachen. Nicht zufällig wird in schöner Regelmäßigkeit vorgeschlagen, den ereignis- und arbeitslosen Nationalfeiertag ersatzlos zu streichen, zugunsten des Bruttosozialprodukts.
Verselbständigte Herrschaft
Nach 20 Jahren ›Berliner Republik‹ ist klar, dass »Einigkeit und Recht und Freiheit« in ihrer gegenwärtigen, bürgerlichen Form keineswegs »des Glückes Unterpfand« sind. Die Schere zwischen Arm und Reich öffnet sich immer weiter, Reallöhne sinken, Bildung und Gesundheit hängen mehr und mehr vom Geldbeutel ab, Kinder- und Altersarmut werden zum Massenphänomen, und wo die disziplinierende Gewalt der kapitalistischen »Marktwirtschaft« nicht mehr greift, setzt der Sozialstaat immer öfter direkte Zwangsmittel ein. Die gegenwärtige Krise verschärft nur eine Entwicklung, die sich seit Jahrzehnten zuspitzt. Kern des Problems ist nicht falsche Politik, sondern viel grundsätzlicher die Existenz von Staat und Kapital und die darin bestehenden und glorifizierten Freiheiten des bürgerlichen Individuums. Die herrschende Freiheit ist zuerst und vor allem die Freiheit zur Konkurrenz, zum endlosen Wettstreit um den privaten Anteil am gesellschaftlichen Reichtum. Wer es sich leisten kann, lässt andere für sich arbeiten, während Lohnabhängige und Erwerbslose sich noch gegenseitig den kargen Rest streitig machen müssen. Aufs Ganze betrachtet, hat sich dieses System gesellschaftlicher Abhängigkeit und Ausbeutung gegen alle verselbständigt.
Kapitalistische Utopie
Zum 20. Jahrestag wird viel von Freiheitsliebe die Rede sein, die die Deutschen 1989/90 zur »Wiederherstellung ihrer nationalen Einheit« geführt habe. Der Massenwiderstand gegen das autoritäre SED-Regime, der Wunsch vieler nach besseren Lebensbedingungen und dem Ende einer unerträglichen Behördenwillkür, wird als Ausdruck eines ungebrochenen nationalen Einheitswillens verklärt. Dieser Mythos löscht die Erinnerung an ganz andere Sehnsüchte im ›kurzen Frühling der Demokratie‹, zwischen Mauerfall und Selbstauslieferung der DDR an die Staatsapparate der BRD. Die verbreitete Hoffnung auf einen wirklich demokratischen Sozialismus mag im Rückblick naiv erscheinen, als spinnerhafter Utopismus einiger randständiger Ostintellektueller. Dies aber nur, weil die überlegene Marktmacht des westlichen, vor allem westdeutschen Kapitals jeden alternativen Entwicklungsweg in kürzester Zeit verstellt hat. Die DDR wurde in Windeseile privatisiert, deindustrialisiert, und damit abhängig von Beihilfen und Investitionen aus Westdeutschland. Die rasante Konjunktur des ostdeutschen D-Mark-Nationalismus im Sommer 1990 reagierte auf eine volkswirtschaftliche Verwüstung, die es im Kapitalismus gratis gibt.
Inzwischen ist klar, dass die kapitalistische Utopie der »blühenden Landschaften« unausweichlich mit Kahlschlag und Krisen verbunden ist. Die Almosen der »sozialen Marktwirtschaft« schützen dieses System gesellschaftlicher Herrschaft vor seiner eigenen Destruktivität. Doch die ruinösen Folgen des ständig verschärften Wettbewerbs der Individuen, Unternehmen und Standorte zeigen sich längst nicht mehr nur im globalen Süden, in den ökonomisch ausgezehrten Landstrichen der kapitalistischen Peripherie. Der Globalisierungsschub der vergangenen 20 Jahre, seit dem Zusammenbruch des staatssozialistischen Blocks, hat Armut und Verzweiflung in die kapitalistischen Zentren zurückgebracht. Daran stößt sich der oberflächliche ›Antikapitalismus‹ vieler Deutscher, den in Wahrheit nur eine vermeintlich schlechte Verwaltung kapitalistischer Systemzwänge stört und der immer noch die Hoffnung auf eine »soziale Marktwirtschaft« hegt. In dieser Situation verbindet sich diese illusionäre Hoffnung auf einen deutschen »Kapitalismus mit menschlichem Antlitz« mit der Ideologie einer nationalen Leistungsgemeinschaft.
Feiertag und Alltag
Der eventabhängige Partynationalismus der Deutschen sollte nicht über ihren Gemütszustand im Alltag täuschen. Dort regiert nicht ›Schwarz-Rot-Geil‹, sondern eher ein ›hoffentlich bleiben wir verschont‹, gepaart mit der aggressiven Angst, das ›uns‹ etwas weggenommen oder vorenthalten wird. Was beide Stimmungslagen verbindet, ist die Selbstverständlichkeit des nationalen ›Wir‹. Als Massenbewusstsein ist nationale Identität ein blutjunges Phänomen, in den meisten Fällen keine 150 Jahre alt. Seine Rückverlängerung zur sinnstiftenden »Nationalgeschichte« richtet sich immer nach gegenwärtigen Konflikten und Sehnsüchten bürgerlich-kapitalistischer Vergesellschaftung. Bebildert und eingeübt wird diese identitäre Haltung nicht zuletzt im Schulunterricht und im nationalen Fernsehen.
Der ideologische Mechanismus dieses nationalen Gefühls offenbart sich in aller Reinheit dort, wo alle ganz authentisch scheinen, auf der Fanmeile. Jungdeutsche in weißen Trikots und Schwarz-Rot-Gold erleben dort ganz offenkundig die ergreifendsten Stunden ihres Lebens. Wildfremde Menschen liegen sich in den Armen, jubeln wie aus einem Mund, und weinen ohne Scham gemeinsam. Dieser Ausdruck nationaler Identität ist spontan, niemand verstellt sich, niemand wurde manipuliert. Was den Fußballdeutschen die Herzen öffnet, ist ihre Sehnsucht nach einer schützenden, solidarischen Gemeinschaft, in der der Nächste nicht immer zugleich Konkurrent und Neider ist. Deshalb liegt der Genuss überschwänglicher Kollektivität abseits staatspolitischer und nationalökonomischer Verbindlichkeit, eben auf der Fanmeile und im Stadion. Doch alleine die Identifikation mit der souveränen Macht des Staates und seinen Symbolen verspricht, die wiederkehrende Erfahrung individueller Ohnmacht zu überwinden, von der im Kapitalismus niemand verschont bleibt. Jeder öffentliche Ausdruck nationaler Identität markiert einen Anspruch auf nationale Fürsorge und nationales Privileg. Genau deshalb bleiben die Grenzen des nationalen Innenraums umkämpft, und werden von seiner Stammbelegschaft argwöhnisch überwacht. Der aktuelle Fahnennationalismus von Neubürgern mit Migrationshintergrund ist keine belanglose Multikultifolklore, sondern der Kampf um Anerkennung als Teil eines im Zweifelsfall privilegierten Kollektivs. Dem gegenüber kann der Lena-Mittelstandsnationalist so ironisch auftreten, weil er in seiner Hannoveraner Durchschnittlichkeit ohne jeden Zweifel »dazugehört«.
Die Selbststilisierung als »aufgeklärte« und »post-ideologische« Nation funktioniert freilich nur, indem die Brutalität gesellschaftlicher Ausgrenzungsprozesse abgespalten und ihren ersten Opfern unterstellt wird. Homophobie, Sexismus und ganz allgemein »Intoleranz« werden bevorzugt MigrantInnen unterstellt, und insbesondere als Charakteristikum »des Islam« ethnifiziert. Auf diese Weise können sich ChauvinistInnen bis weit ins linke Lager als Kreuzritter einer Freiheit inszenieren, die ihre Politik seit Jahrzehnten verraten hat.
Deutscher Krisennationalismus
Grundsätzliche Zweifel am nationalen Ticket finden sich kaum. Die BürgerInnen fügen sich stolz den Ansprüchen des Standorts als unausweichlichem Schicksal. Ihre Zustimmung ist getragen von der utopischen Hoffnung, dass es ihnen selbst gut oder zumindest nicht schlechter gehen wird, wenn das nationale Kapital floriert. Eine Hoffnung, die den Exportweltmeistern mehr als allen anderen einleuchtet, und ihnen auch von ihren Gewerkschaften jahrzehntelang eingeleuchtet wurde. Nicht trotz, sondern wegen der Krise herrscht nationaler Burgfrieden, während in vielen anderen europäischen Ländern Streiks und Massenproteste an der Tagesordnung sind. Diese klassenübergreifende staatsbürgerliche Komplizenschaft gründet wesentlich in der gerade in Krisenzeiten spürbaren Überlegenheit des deutschen Kapitals und des deutschen Staates in der globalen Konkurrenz. Dank volkswirtschaftlicher Reserven und einer vorläufig unbeschadeten Kreditwürdigkeit erscheinen beide als Fels in der Brandung einer aus den Fugen geratenen Weltwirtschaft. Der deutsche Staat kann noch immer riesige Konjunkturpakete und Stützmaßnahmen finanzieren, mit denen die Krise bislang tatsächlich national abgefedert wurde. Die Staatspleiten an der europäischen Peripherie verschaffen den Deutschen einen zusätzlichen ideellen Krisengewinn. Sie scheinen zu belegen, dass die Verzichtsrunden der letzten 20 Jahre sinnvoll waren und fortgesetzt werden müssen. Insgesamt herrscht eine Art nationaler Leidensstolz, der gegenüber schwächeren Ländern schnell in Sadismus umschlagen kann: »Pleitegriechen« und Konsorten werden noch härtere Einschnitte an den Hals gewünscht, als man selbst seit Jahren akzeptiert hat. Die Deutschen zahlen mehrheitlich offenbar klaglos, so lange dieser ideologische Nektar fließt.
Verzicht für den Standort wird zum ethischen Leitbild. Wer sich ihm nicht fügt, bekommt spätrömische Dekadenz vorgeworfen, den Heizkostenzuschuss gestrichen und gegen die Winterkälte einen zweiten Pullover anempfohlen. Die Einheit der Nation als Leistungsgemeinschaft in der Weltmarktkonkurrenz stützt sich auf das imaginäre Feindbild des »Sozialschmarotzers«, der die Knute des Sozialstaats und die Verachtung des Kollektivs zu spüren bekommen solle. Diszipliniert werden so auch die, die noch nicht abgestiegen sind. Nationaler Leidensstolz paart sich mit der realen Gefährdung des Individuums in der aktuellen Form des Kapitalismus zur Bereitschaft, jede neue Verzichtsrunde zu akzeptieren.
Unter der Herrschaft von Staat und Kapital haben die Menschen unermessliche Reichtümer erschaffen, doch genießen können sie sie nicht. Die falsche Freiheit der bürgerlichen Gesellschaft garantiert nur endlosen Druck für die Masse und vergoldete Scheiße für wenige. Die Identifikation mit der Nation bestätigt diese verhexte Welt, anstatt sie vernünftig neu zu ordnen. Der vermeintliche Realismus der deutschen Standortameisen, ihre Nationalreligion aus Leistung und Verzicht, ist in Wahrheit nur eine Utopie der Verzweiflung. Besser wird es erst, wenn wir dieser Gesellschaft den Stecker ziehen.