Der deutsche Jubiläumsnationalismus 2009 erreicht im November seinen Höhepunkt. 20 Jahre ‘Wende’, 20 Jahre ‘Mauerfall’, 20 Jahre ‘Einheit in Freiheit’. Auf den Deutschland-Fanmeilen von Leipzig bis Berlin können, dürfen und sollen alle mitmachen. Und am Brandenburger Tor lässt der Staat noch einmal die Mauer errichten – um sie am 9. November mit großem Rums einzureißen.
Das einfältige Spektakel dient einer neuen deutschen Ideologie. 20 Jahre nach dem Bankrott des Ostblocks zimmert sich Deutschland eine Freiheitsgeschichte als nationalen Mythos. 1945 mussten die Deutschen bekanntlich noch zur Demokratie gezwungen werden. Doch 1989 soll in die Geschichtsbücher eingehen als das Jahr, in dem die Deutschen selbst für ‘die Freiheit’ kämpften. Wenn am 9. November die Mauer noch einmal fällt, dürfen sich alle Deutschen als Freiheitsrevolutionäre fühlen.
Bürgerliche Freiheit als Freiheit zur Konkurrenz
Aber die herrschende Freiheit ist schlechter als ihr Ruf. Bürgerliche Freiheit ist die Freiheit kapitalistischer Konkurrenz. Und deren Brutalität wird auch nicht besser durch Vergleiche mit den Staatszwängen des Realsozialismus, oder mit dem Wüten der Volksgemeinschaft im NS. Der siegreiche Kapitalismus hat weltweit neue Ohnmacht und neue Verzweiflung produziert. Sein “stummer Zwang” (Marx) macht den meisten Menschen das Leben zur Hölle, selbst denen, die obenauf schwimmen. Kapitalistische Freiheit bedeutet blinde Herrschaft des Markts, ein zugerichtetes Leben für Lohnarbeit, Kapitalverwertung und Konkurrenz, und vergoldete Scheiße für Wenige.
Wir demonstrieren also nicht nur gegen eine alberne Wende-Party am Brandenburger Tor. Es geht gegen die staatsbürgerliche Erbauung zum kapitalistischen Hauen und Stechen. Es geht gegen den Mythos bürgerlicher Freiheit, gegen ihre nationale Ideologie und gegen ihre gesellschaftliche Realität: Konkurrenz, verselbständigter Zwang und als selbstbestimmte Arbeit verkaufte Ausbeutung.
Krise und ideologischer Kitt
Mitten in der Krise bildet die nationale Einheits-Show den ideologischen Kitt einer Gesellschaft im globalen Kampf um Verwertungsbedingungen. Hier bestätigen Staat und Volk ihren Bund für kommende Konkurrenzschlachten. Hier werden soziale Spaltungen symbolisch überbrückt, während sie sich real weiter vertiefen. Zwar verdammt die kapitalistische Gesellschaft alle ihre Mitglieder zu einer endlosen Konkurrenz gegen einander. Doch sie macht sie gleichzeitig zu Komplizen im weltweiten Kampf der Standorte. Von der Konkurrenzfähigkeit der nationalen Verwertungszone hängt im Leben der Bürger_innen fast alles ab: Bildungsmöglichkeiten, Einkommenschancen und soziale Sicherung. In dieser objektiven Abhängigkeit Aller vom unberechenbaren Weltmarktschicksal des ‘eigenen’ Staates erscheint nationale Identität als Ausdruck einer naturwüchsigen, schicksalhaften Gemeinschaft.
Doch blühende Landschaften taugen längst nicht mehr für diesen ideologischen Kitt. Jeder weiß inzwischen: Was der Kapitalismus heute errichtet, kann er schon morgen wieder wegnehmen. Wo ideologischer Ein- und Ausschluss über reale Lebenschancen entscheidet, kann der zivile Alltagsnationalismus jederzeit in handfesten Rassismus umschlagen. Ohnehin sterben Monat für Monat Hunderte, manchmal Tausende an den militärisch gesicherten Wohlstandsgrenzen der EU.
In der Krise lockt der Staat nicht mehr allein mit materiellen Versprechen, sondern mit ‘Freiheit’. 20 Jahre nach dem Mauerfall wird Freiheit zum deutschen Nationalcharakter stilisiert. Bundespräsident Köhler attestierte den Deutschen zum 8. Mai eine “Begabung zur Freiheit”. Mit der Feier der Wende als ‘friedlicher Revolution’ drängt sich Deutschland in die Riege bürgerlicher Musterstaaten. Die Berliner Republik möchte eine revolutionäre Gründungsurkunde wie England, Frankreich und die USA – und stellt sie sich gleich selbst aus.
Die falsche Freiheit im Gelben Trikot
In staatstragenden Verlautbarungen werden die Ereignisse von 1989 heute auf die Schlagworte ‘Freiheit’ und ‘Einheit’ reduziert. Das ist Ideologie und Wahrheit zugleich. Ideologie, denn der Ostblock ist nicht einfach aus ‘Willen zur Freiheit’ zusammengebrochen, sondern weil der Westen ihn ökonomisch und militärisch in Grund und Boden konkurriert hat. Wahr, weil nach dem Zusammenbruch des Realsozialismus die letzten Barrieren der Kapitalverwertung gefallen sind. Wahr auch, weil damit die Ideologie der bürgerlichen Freiheit materielle Gewalt geworden ist. Seither gelten weltweit die gnadenlosen Spielregeln des freien Marktes. Diese falsche Freiheit hat in der Tat überall gesiegt. Sie hat sich als globales System der Verwertung verselbständigt und gilt heute absolut alternativlos. Dass die Herrschaft der falschen Freiheit mit dem Scheitern des Realsozialismus alternativlos geworden sei, ist also die eigentliche ideologische Quintessenz aus dem 9. November 1989. Während der Kapitalismus wieder einmal auf dem Weg in eine mehrrundige Krise ist, und die Kosten seiner Alternativlosigkeit selbst in den Speckgürteln der Metropolen steigen, soll die Berliner Party zum 20. Jubiläum des Mauerfalls an die glücklichen Träume von damals erinnern: Einheit und Freiheit.
In dieser Situation wird Freiheit als nationale Verantwortung buchstabiert. Die Rückschau auf vergangene Leistungen ist Verpflichtung auf künftige. Der deutsche Mythos einer gemeinsam errungenen Freiheit verknüpft das, was ‘wir’ leisteten und überwanden, mit dem, was ‘wir’ auch in Zukunft überwinden und leisten müssen. Der deutsche Freiheitsmythos ist also eine Mischung aus ideologischer Ertüchtigung, Ansporn und objektiver Notwendigkeit. Ohne effektiv ins Werk gesetzte Freiheit waren im Nachkriegsdeutschland weder Wirtschaftswunder noch Zustimmung zu einer Nation denkbar, die in jeder Hinsicht am Boden lag. Zugleich war die bloße Existenz der DDR ein Stachel im Fleisch der nationalen Ideologie: Die amputierte deutsche Nation durfte sich partout nicht selbst bestimmen. Vor 20 Jahren endlich konnte dieser Geburtsfehler der BRD, ihr Mangel ursprünglicher politischer Souveränität, geheilt werden. Unterm deutschen Freiheitsmythos vervollkommnet der Fall der Mauer die wirtschaftliche Freiheit im Westen durch überfällige Selbstbestimmung der gesamten Nation.
Das nationale Besondere und das kapitalistische Allgemeine
Falsche Freiheit war damit verdoppelt: Die im Westen seit 1949 verfassungsmäßig verbriefte Freiheit, die Gesetze der Warenproduktion privatautonom zu exekutieren, wurde 1989 ergänzt durch die Freiheit zur deutschlandweiten nationalen Selbstbestimmung. Nationale Souveränität soll garantieren, was die zweckmäßige Verwertungsordnung immer wieder durchstreicht: wohlige Gemeinschaft, die Wärme des Kollektivs. Der neue deutsche Freiheitsmythos lässt die Anpassungsleistungen an den stummen Zwang der globalen Konkurrenz als heroische nationale Selbstbestimmung erscheinen. Souveräner Selbstzwang wird zur nationalen Identität, zum verbindenden Gehalt jenseits der leeren Form ‘Selbstbestimmung’. Das Gedenken an den Mauerfall inszeniert diese nationale Identität als Begabung zur Freiheit, als deutsche Freiheitsliebe, die sich gegen alle Widerstände durchzusetzen vermochte. Das Wendegedenken verleiht dieser ideologischen Verdopplung einen heldenhaften Anstrich: Die Deutschen wurden unbeugsame Revolutionäre, Sieger der Herzen. So ist auch dieser besondere Nationalcharakter nur eine identitätsstiftende Rationalisierung des trostlosen Verwertungszwangs, des immer und überall Gleichen. Weil er die Zustimmung zu einer feindlichen Gesellschaftsordnung organisiert, gilt auch im November 2009: Die Feier der freiheitsliebenden Nation ist ein Angriff auf das schöne Leben.
Staatssozialismus und die richtigen Alternativen zur Herrschaft der falschen Freiheit
Das Scheitern des Realsozialismus hat nicht die Notwendigkeit widerlegt, den Kapitalismus als ein verselbständigtes, überflüssiges Zwangsverhältnis abzuschaffen. Die Kosten des kapitalistischen Normalvollzugs, die Armseligkeit seines Reichtums und seine mörderische Armut spotten dem eilig ausgerufenen Ende der Geschichte tagtäglich und weltweit Hohn. Gleichzeitig beschränkt sich die wieder salonfähig gewordene ‘Kritik’ am Kapitalismus auf die Frage nach dem ausgewogenen Verhältnis zwischen ‘Markt’ und ‘Staat’. Doch genau darin bestätigt sie die allgemeinen Prinzipien kapitalistischer Herrschaft und schreibt die feindliche Grundordnung dieser Gesellschaft fort. Entscheidend ist, was nicht auf der Tagesordnung steht: nämlich die Befreiung vom Automatismus einer irrationalen Vergesellschaftungsweise. Gemessen am Marxschen Diktum vom “Verein freier Menschen” stellt sich die Geschichte des realen Sozialismus als Farce dar. Es regierte nicht Produzentenautonomie, sondern Staatszwang. Dem Realsozialismus verdanken wir dabei immerhin die Einsicht, dass die staatliche Verwaltung des Übergangs in die befreite Gesellschaft keine ernstzunehmende Alternative sein kann: Herrschaft schlägt man nicht mit ihren eigenen Formen. Dem Realsozialismus ist aber nicht einfach die Idee des Kommunismus entgegenzuhalten. Kommunismus ist kein Zustand, der hergestellt werden soll, kein Ideal, wonach die Wirklichkeit sich zu richten hat. Kommunismus nennen wir die wirkliche Bewegung, welche den falschen Zustand aufhebt. Mit dem Kommunismus kommt der Anfang der Geschichte.
…ums Ganze! November 2009