Aufruf antinationale Parade – „Etwas besseres als die Nation!“

Partyparty!

Am 23. Mai feiert die Bundesrepublik ihren 60. Geburtstag. 60 Jahre Grundgesetz – eine Erfolgsge- schichte: 60 Jahre irgendwie Menschenwürde; 60 Jahre kein deutscher Faschismus, sondern Rechtsstaat; 60 Jahre mitent- scheiden, welche Farbe regiert; 60 Jahre mehr oder weniger „Wohlstand für alle“ durch „soziale Marktwirtschaft“; 60 Jahre Frieden in Europa; 60 Jahre Tralala. Es gibt schlimmeres als den deutschen Staat. Das war nicht immer so. Deshalb bekommt die BRD sogar von vielen Linken Respekt, die ihre Bratwurstbür- ger_innen und Polithansel widerlich finden, und die weghören, wenn die Glotze mal wieder „Du bist Deutschland!“ sagt. Selbst die Systemkrise des Kapitalismus kann die Feierstimmung nicht verhageln. Im Gegenteil, sie erinnert alle daran, dass in der kapitalistischen Weltordnung nur Vater Staat ein kleines biss- chen Sicherheit geben kann. Jedenfalls hierzulande. Mit seinen „Rettungspaketen“ und „Schutzschirmen“ erscheint er als Obersamariter der Nation und seine freiheitlich-demokratische Herrschaft als historische Segnung. Die Identifikation mit der Nation braucht kein Säbelrasseln, kein Strammstehen und auch keinen Brandstifterrassismus. Es genügt, wenn sich alle Aufent- haltsberechtigten fürs Gemeinwohl ins Zeug legen.

Gemeinwohl?

Gemeinwohl? Ok, wir sind nicht naiv: Deutsch- land ist real nicht die tolle Multikulti-Mitmachnation, die uns aus den schwarz-rot-goldenen Werbespots angrinst. Auch hier werden ständig Menschen ausgegrenzt, wenn etwas an ihnen nicht ins Mitmachschema passt: falsche Hautfarbe, falsche Staatsbürgerschaft, falsches Geschlecht, falsche Bildung, falsche Einstellung zum Eigentum, vor allem aber: zu wenig Geld. Und von Gemeinwohl ist vor allem dann die Rede, wenn es um Einschnitte und Opfer für Deutschland geht: Um den Sozialstaat zu retten, wird er abgebaut. Um das Gesundheitssystem zu erhalten, wird es beschränkt und verteuert. Um die Rente zu garantieren, zieht der Staat seine Garantien zurück. Und dem Standort zu- liebe muss auf Lohn und Kündigungsschutz verzichtet werden. Eigentlich leben wir in einem der reichsten Länder der Erde. Eigentlich könnte es allen gut gehen. Aber in Wahrheit geht es allen schlecht, nur auf unterschiedlich hohem Niveau. Und in der Krise

sollen alle ihre Gürtel noch mal enger schnallen, damit Deutsch- land „gestärkt“ in die nächste Konjunktur starten kann.

Gute Staatsbürger_innen nehmen solche Probleme als natio- nale Herausforderungen an. Sie engagieren sich, damit aus Deutschland ein besseres Deutschland werde. Doch die Sache hat einen grundsätzlichen Haken. Das Gemeinwohl dient in dieser Gesellschaft nicht dem Wohl der Menschen. Schuld da- ran ist nicht falsche Politik und auch nicht die angebliche Gier Einzelner. Schuld ist die Gesellschaftsordnung selbst, in deren Rahmen Politik gemacht wird und für deren Fortbestand der Staat mit seinem Recht und seinem Gewaltmonopol einsteht. Die bürgerlich-kapitalistische Gesellschaft verdammt ihre Indivi- duen zur Konkurrenz gegeneinander und macht sie gleichzeitig zu Komplizen im weltweiten Hauen und Stechen der Standorte. Das ist der wesentliche Inhalt von „Freiheit“ und „Gleichheit“ im kapitalistischen Staat. Die falsche Freiheit des kapitalistischen Privateigentums zwingt die Menschen dazu, mit ungleichen Mitteln um den gesellschaftlichen Reichtum zu konkurrieren: um Ausbildungsplätze, um Lohn, um Kunden und Marktanteile, um Investitionen und Kredite, um Ansehen und Vertrauen – um Lebenschancen also. Gleichzeitig bilden alle Bürger_innen eine reale, klassenübergreifende Schicksalsgemeinschaft in der Weltmarktkonkurrenz. Hier nämlich entscheidet sich, was die Leistung der heimischen Industrie tatsächlich „wert“ ist, und welche Zukunft der Standort hat oder nicht. Dieser doppelte Druck kapitalistischer Konkurrenz verdirbt alle Annehmlichkeiten, die die kapitalistische Industrie produzieren kann. Jeder private, also im Wortsinne ausschließende, Gewinn ist ein um- kämpftes Privileg auf Widerruf. Jedes Wirtschaftswachstum produziert Verlierer_innen und mehr Stress für die Gewinner_ innen. Daran ändert auch „Anpacken“ für Deutschland nichts. Im Gegenteil: Es bestätigt die für alle feindliche Grundordnung dieser Gesellschaft.

Normalo-Nationalismus DieKonflikte der kapitalistischen Gesellschaftsordnung sind nicht still zu stellen. Um so notwendiger und rosiger erscheint der Staat. Weil er die zwanghafte Konkurrenz beaufsichtigt, erscheint er als Hüter des Gemeinwohls. In der Krise wie in der Konjunktur soll er die „Exzesse“ des Kapitalismus einhegen. Doch die ordnende Macht des Staates steht nur über den einzelnen Konkurrent_in- nen, nicht über der kapitalistischen Konkurrenz als Prinzip. Der Staat ist überparteilich gegenüber einzelnen Privateigentümern, aber parteilich für die Konkurrenzordnung des Privateigentums, die ihn nährt. Kapital als solches ist heimatlos. Auf der Suche nach profitabler Verwertung drängt es über jede Grenze. An- ders der Staat und seine Bürger. Sie sind auf den Patriotismus kapitalistischer Gewinne angewiesen – darauf, dass etwas davon in die Bilanzen, Lohntüten und Steuersäckel fließt. Des- halb ihre ständige Not, den Kapitalismus auf ein Gemeinwohl zu verpflichten, von dem er sich immer wieder losreißt. Das ist die reale Basis des staatsbürgerlichen Nationalismus. Alleine die Identifikation mit der souveränen Macht des Staates ver- spricht, die wiederkehrende Erfahrung individueller Ohnmacht zu überwinden, von der im Kapitalismus nicht mal Privilegierte und Glückspilze verschont bleiben. Alleine die Zugehörigkeit zur Nation verspricht Schutz und solidarische Handlungs- fähigkeit jenseits end- und auswegloser Verwertungszwänge. Der staatsbürgerliche Normalo-Nationalismus ist also beides: ideologische Überwindung wirklicher sozialer Spaltungen und zugleich Ausdruck der tatsächlichen Frontstellung des national- ökonomischen Kollektivs nach außen. Die Identifikation mit der Nation, mit den Symbolen und Zielen des Staates reagiert auf die unausweichlichen Bedrohungslagen des Kapitalismus. Sie ist so unberechenbar wie die kapitalistische Konjunktur, aber parteilich fürs ‘eigene’ Kollektiv. Dabei mutieren gerade dieje- nigen zu Staatsfans, die am wenigsten von seiner Ordnung profi- tieren und die auf seine Almosen angewiesen sind, auf BAföG, Hartz IV oder eine Scheißrente. Doch auch allen anderen wird die Identifikation mit der Nation zur automatischen Gefühlslage. Es ist etwas wahres dran, wenn der Bundespräsident behauptet, die „Weltwirtschaft“ sei „unser Schicksal“ (Berliner Rede 2009). Die Insassen der nationalökonomischen Schicksalsgemeinschaft sind nicht nur zum nationalen Daumendrücken verdonnert, sondern zum praktischen Nationalismus, zum Einsatz für Firma und Vaterland. „Ich“ ist im Kapitalismus immer auch ein nationales „Wir“. Du bist wirklich Deutschland, ob Du willst oder nicht!

Jubiläumsnattiionalliissmuss

Zum 60. Geburtstag der freiheitlich-demokratischen Herrschaft bilanzie- ren Staat und Bürger_innen ihr Dasein am höchsten Maßstab, den es gibt: der Freiheit. Es erscheint als größtes Verdienst der Bundesrepublik, Freiheit durch Recht, Ordnung und sozialen Ausgleich verwirklicht zu haben. Das nationale Patentrezept dafür heißt „soziale Marktwirtschaft“. Nach dem Willen der Kanzlerin soll sie sogar weltweit den Kapitalismus vor seinen eigenen Krisen retten. Damit ist schon alles Wesentliche zur sozialen Marktwirtschaft gesagt: Indem sie die ärgsten Unglei- chgewichte des Kapitalismus ausbügelt, hält sie ihn im Gleis und erneuert seine Sachzwänge. Die demokratischen Freiheiten, die Deutschland nach Jahren der Reifeverzögerung nunmehr garantiert, garantieren allein das Drehen des Hamsterrads der Konkurrenz der Menschen, der Unternehmen und der Staaten gegeneinander – samt der unberechenbaren Krisen und dau- ernden Frustrationen, die damit notwendig verbunden sind. Das Versprechen der sozialen Marktwirtschaft war, ist und bleibt Ideologie. Die integrative Kraft des „Modell Deutschland“ zehrt von der Erinnerung an die provinzielle Friedhofsruhe der alten BRD mit ihrem armseligen Wohlstand. Doch soziale Markt- wirtschaft und beinharte Konkurrenz sind kein Widerspruch. Soziale Marktwirtschaft meint nationalen Burgfrieden in der Weltmarktkonkurrenz – auf ewig gestellt.

Nicht, dass gegen auch nur geringfügige Verbesserung der Lebensverhältnisse etwas einzuwenden wäre. Zu begrüßen ist jede von Lohnarbeit freie Minute. Doch der Appell an den fürsorglichen Staat bewegt sich immer schon im Glauben, Staat und Recht seien Werkzeuge des individuellen und gesell- schaftlichen Wohlergehens. Er schreibt ungewollt das allge- meine Elend fort. Jede Anrufung des Staates rückt ein Jenseits des Staates in weitere Ferne. Jede betriebliche Forderung nach höheren Löhnen hat in der Sprache der Standortkonkurrenz zu sprechen. Jeder Appell an die Nation bestätigt deren Prinzi- pien: Privateigentum und Konkurrenz, Leistungsdruck und Aus- schluss, Zwang zum Selbstzwang, Schicksalsgemeinschaft in der Weltmarktkonkurrenz.

An alle: Kritik der Nation!

EineLinke, die ihre eigenen politischen Ziele ernst nimmt, muss also immer auch gegen die nationale Gesamtscheiße gehen. Antifaschismus heißt Kritik an Staat und Nation, denn die völkischen Freaks radikalisieren nur die Logik kapitalistischer Schicksalsgemein- schaft: Aufopferung fürs Privileg der eigenen Bande, gnadenlos gegen den Rest der Welt. Antirassismus heißt Kritik an Staat und Nation, denn die staatliche Diskriminierung von Menschen nach Herkunft und Nutzen folgt der Logik geordneter Standortkonkur- renz: nationale Vorteile sichern, Verantwortung abschieben. Und auch der Alltagsrassismus der deutschen Deppen ist vor allem ein Appell ans nationale Privileg: der Staat soll „Deutsche zuerst!“ bedienen. Schul- und Hochschulpolitik sind nur kri- tisch, wenn sie die staatlichen Mittel und Zwecke der Bildung attackieren: Entwicklung des nationalen Humankapitals, Wis- senschaft als Standortfaktor, „Selbstbestimmung“ nur als Trai- ning für Konkurrenz und Auslese. Und jede Politik „im Interesse der Lohnabhängigen“ wird zur nationalen Komplizenschaft ge- gen Lohnabhängige anderswo, wenn sie sich nicht gleichzeitig gegen Staat und Standort richtet. Lohnarbeit, die herrschende Form kapitalistischer Ausbeutung, heißt Arbeit in endloser Konkurrenz, für andere und gegen andere, zusammengehalten durch staatliches Recht, staatliche Aufsicht und nationales Interesse.

Die Feier der Nation ist ein Angriff auf das schöne Leben und die befreite Gesellschaft. Geben wir diesem Angriff die passende Antwort. Berufen können wir uns dabei auf nichts als den Willen, den Bann zu brechen, der uns in dieser erbärmlichen Welt zu leben heißt.

WIR HABEN EINE WELT ZU GEWINNEN!