Linksradikale Gruppen produzieren jedes Jahr tonnenweise Broschüren und Flugblätter. Nun habt ihr als »…ums Ganze!«-Bündnis ein halbes Buch zum Staat draufgepackt.
Was versprecht ihr euch davon?
Sahra: Der Ansatz, erst mal engagiert Politik zu machen, und dabei irgendwie die Welt zu verbessern, ist in den letzten 200 Jahren Kapitalismus immer wieder grandios gescheitert. Einen der Gründe dafür sehen wir in der fehlenden theoretischen Auseinandersetzung in der Linken. Linke Politik beginnt häufig mit einem humanistischen Impuls: dass Not und Zwang aufhören sollen. Aber bloßer Humanismus ist naiv und oberflächlich. Er nimmt die Krisen wie sie kommen, aber er versucht nicht zu begreifen, wie sie entstehen, und warum sie immer wiederkehren. So eine Politik kommt ohne viel Theoriearbeit aus. Man versucht, anfallende Probleme ›im Interesse der Menschen‹ zu lösen, organisiert vielleicht öffentlichen Druck, und ärgert sich am Ende regelmäßig, dass wieder mal ein Sachzwang dazwischen gekommen ist. So eine Politik ist unkritisch, selbst wenn sie sich die kritischen Themen aussucht. Denn mit den bestehenden Institutionen, Verfahren und Begriffen akzeptiert sie auch die herrschende Deutung, was eigentlich das Problem ist – und wie man mit ihm umgehen muss. Der linke Humanismus läuft hier erst mal ständig vor die Wand. Und früher oder später akzeptiert er sie als Grenze.
Linksradikale Kritik muss sich dagegen viel umfassender rechtfertigen. Denn sie nimmt nicht nur zu konkreten Problemen Stellung. Sondern sie versucht zu zeigen, wie diese Konflikte mit der Verfasstheit der Gesellschaft als ganzer zusammenhängen, mit ihrer ›Struktur‹. Linksradikale Kritik problematisiert also die selbstverständlichen Voraussetzungen der Politik. Sie zeigt, dass die bestehenden, demokratischen Institutionen eine extrem konfliktträchtige Gesellschaftsordnung vermitteln. Und sie macht erkennbar, dass auch diese scheinbar zivile Gesellschaftsordnung notwendig institutionalisierte Gewalt voraussetzt. Deshalb kann und will linksradikale Kritik in den seltensten Fällen pragmatische Lösungen bieten.
Mit politischem Extremismus hat das nichts zu tun. Linksradikale Kritik ist nicht ›extrem‹. Sie will bloß eine Gesellschaftsordnung überwinden, die Individuen und Staaten als Konkurrenten gegeneinander hetzt. Und die genau dadurch einen zwanghaften und ausschließenden Kollektivismus hervorbringt. Dieser Zusammenhang lässt sich nicht in drei Zeilen darstellen.
Ahmet: Ein zusätzliches Problem ist, dass linksradikale Kritik ständig gegen die Alltagswahrnehmung der Leute anschreiben muss. Und gegen deren scheinbar unmittelbare Interessen. Auf den ersten Blick ist tatsächlich schwer einzusehen, was an der herrschenden ›Freiheit‹ und ›Demokratie‹ problematisch sein soll. Wer will schon ›weniger Freiheit‹ und ›weniger Demokratie‹?! Und wer möchte schon sein sauer verdientes Eigentum von ein paar linksradikalen Spinnern weggenommen kriegen?! Wer kann sich schon eine Gesellschaft ohne Staat vorstellen?! Das ist im Rahmen der bestehenden Verhältnisse tatsächlich völlig utopisch. Aber eben nur in diesem Rahmen.
Der entscheidende Punkt ist, dass die vermeintlich unmittelbaren Interessen der Individuen so unmittelbar gar nicht sind. Diese Interessen ergeben sich aus ihren unterschiedlichen, zum Teil widersprüchlichen Standpunkten im Vergesellschaftungsprozess. Menschen haben in dieser Gesellschaft sozusagen strukturell eine schizophrene Existenz: Sie müssen zusammenarbeiten, aber auch dauernd gegeneinander konkurrieren. Sie müssen sich als Privateigentümer durchschlagen, aber sie sind zugleich Teil eines Staatsbürgerkollektivs, das gegen andere Staatsbürgerkollektive zusammenstehen muss. Das passt alles nicht zusammen, aber so ist die Welt gerade eingerichtet. Der Versuch, diese Widersprüche als sinnvolles Ganzes zu denken, führt regelmäßig zu falschen, zu ideologischen Erklärungen. Und damit zu einer falschen Kritik an den Zumutungen und Konflikten dieser Gesellschaftsordnung. Es entsteht ein Wust ideologischer Konzepte und politischer Schuldzuweisungen, den eine linksradikale Kritik erst mal wegräumen muss. Aber genau dabei lässt sich auch zeigen, was an dieser Gesellschaft verkehrt ist. Deshalb geht es in unserer Staatskritik ganz wesentlich um eine Kritik der »falschen Freiheit«.
Sahra: Natürlich wird man auch durch viel Theorie allein nicht zur Revolution kommen. Aber wer sich in seinem politischen Urteil nicht ständig blamieren will, der muss sich kritisch und unvoreingenommen mit den Strukturen dieser Gesellschaft beschäftigen. Dann merkt man schnell, dass in der Linken eine fundierte und radikale Auseinandersetzung meist fehlt. Häufig wird viel Papier produziert, um das zu legitimieren, was man ohnehin schon politisch treibt oder treiben wollte. Theorie rechtfertigt bloß noch bestimmte Politikkonzepte, auf die man sich festgelegt hat.
Wir haben in unseren Diskussionen viele Stränge linksradikaler Staats- und Ideologiekritik aufgenommen. Es geht natürlich vor allem darum, die grundlegende Rolle des Staates in der kapitalistischen Welt zu verstehen. Aber wir haben versucht, diese allgemeine Perspektive so aufzuarbeiten, dass sie für die gegenwärtigen Probleme linksradikaler Praxis produktiv ist. Denn egal ob Hartz IV, die Forderung nach einem NPD-Verbot oder auch die Diskussion über ›globale soziale Rechte‹: die Linke ist ständig mit dem Staat konfrontiert. Insofern ist unser theoretisches Papier auch praktisch relevant. Aber natürlich ist es keine politische ›Gebrauchsanweisung‹. Dazu ist der bürgerliche Staat tatsächlich viel zu widersprüchlich. Uns ging es darum, typische, strukturelle Konfliktlagen herauszuarbeiten, und zwar in ihrer aktuellen Bedeutung.
Wenn man sich die Transparente auf linken Demos ansieht, hat man manchmal den Eindruck, dass da vor allem linksradikale Lesezirkel ihre neueste Theorie Gassi führen.
Aber muss die radikale Linke wirklich politische Theorie betreiben, als säße sie im Hochschulseminar? Geht es nicht eher um praktischen politischen Druck?
Ahmet: Ich finde, daß Du eine falsche Trennung von Theorie und Praxis aufmachst. Der Versuch, gesellschaftliche Strukturen in ihrer Funktion zu begreifen, ist doch Teil davon, sie zu verändern. Schließlich hängt vom Ergebnis der Analyse auch die Wahl der Strategie ab. Gleichzeitig ist Theorie keine Blaupause für Praxis. Zwar kann und muss die radikale Linke eine allgemeine Kritik des bürgerlichen Staates leisten, eine Kritik seiner allgemeinen Verfassung und Funktion. Aber wie die aktuellen Konfliktlinien konkret verlaufen, findet man nur heraus, wenn man staatliche Institutionen und staatsbürgerliche Ideologien herausfordert, theoretisch und praktisch. Wer nur im Lesezirkel sitzt, macht solche Erfahrungen nicht, und entsprechend abstrakt bleibt die Theorie. Andrerseits: wer seine Erfahrungen überhaupt nicht theoretisch einordnen kann, kommt auch auf keine Einsicht. All das sind zwingende Gründe, warum man die Theorie nicht irgendwelchen Experten überlassen kann, warum man sie selbst vorantreiben muß. Das ist zwar anstrengend, aber absolut unumgänglich.
Wir wollen beitragen zur Neuformierung einer radikalen, antikapitalistischen und antinationalen linken, die nicht nur die besseren Argumente hat, sondern die auch die Gesellschaft grundlegend verändern kann. Dabei ist es zentral, dass es keine Kader gibt, die alleine den Durchblick haben und die Linie vorgeben. Alle sollen ExpertInnen sein, es geht ja auch alle an. Deswegen haben wir 2007 als Bündnis einen Kongress zu einem eher ›akademischen‹ Thema organisiert, den Frankfurter »No Way Out?!«-Kongress zu Problemen einer Kapitalismuskritik auf der Höhe der Zeit. (www.ugkongress@blogsport.de).
Sahra: Deshalb sind wir auch keine ›Theoriegruppen‹. Wie gesagt, es gibt nicht den einen Masterplan für den Weg zum Kommunismus, und auch nicht die eine revolutionäre Klasse. Und es gibt schon gar keine ›Notwendigkeit‹, die ›objektiv‹ zur Aufhebung der bürgerlichen Gesellschaft drängt. Das 20. Jahrhundert hat nicht nur gezeigt, wie resistent der Kapitalismus ist. Es hat auch gezeigt, wie schnell sich die Menschen unterm Druck von Konkurrenz und Verwertung mit dem staatlichen Herrschaftssystem identifizieren. Und dass sie dabei auch zu extremen Verbrechen bereit sind. Diese Erfahrungen sind zentral für jeden Versuch, radikale Kritik neu zu formulieren. Es geht immer wieder darum, Formen widerständiger Praxis zu entwickeln, die nicht sofort an den Schutzmechanismen der kapitalistischen Gesamtscheisse abprallen; die nicht sofort wieder abgefangen werden durch die Integrationsangebote und Fallstricke der bürgerlichen Ideologie. Das verlangt nicht nur scharfe Kritik, sondern auch die Bereitschaft zur Selbstkritik. Und zwar als kollektive Prozesse, als kollektiv organisierte Arbeit an Theorie und Praxis. Eine bessere Idee haben wir nicht, aber das ist ja auch schon mal etwas.
Was sind denn die zentralen Ergebnisse eurer Diskussion über den Staat?
Ahmet: Wir haben in unseren Diskussionen schnell gemerkt, dass eine angemessene Staatskritik nur möglich ist, wenn man das Wechselverhältnis von Staat und Weltmarkt herausarbeitet. Ein Verhältnis, das strukturell krisenhaft ist. Der moderne, bürgerliche Staat und der kapitalistische Weltmarkt sind ja in Abhängigkeit voneinander entstanden. Und doch ist die ›Logik des Staats‹ nicht deckungsgleich mit der ›Logik des kapitalistischen Weltmarkts‹, bzw. mit der ›Logik des Kapitals‹. Einerseits ist der institutionalisierte Weltmarkt Produkt staatlichen Handelns. Andererseits gibt es eine Dynamik kapitalistischer Verwertung, die die staatlichen Regulationsversuche immer wieder sprengt. Die unterstellte ›Souveränität‹ des Staats bricht sich an den Zwängen der Weltmarktkonkurrenz. Und zugleich ist der Weltmarkt Quelle staatlicher Macht. Wir haben versucht, die wichtigsten Konfliktlinien dieses Verhältnisses zu diskutieren.
Denn es reden zwar alle über ›Globalisierung‹. Aber meist werden die realen Konfliktlinien allzu simpel gefasst. Schon der Begriff Globalisierung wirft ja alles in einen Topf: Staat, Weltmarkt, die bösen ›multinationalen Unternehmen‹, das ›Finanzkapital‹, die ›Transnationalisierung‹ etc. pp. – alles geht durcheinander, und es bleibt völlig unscharf, wer hier eigentlich warum wie handelt. Und diese Unschärfe führt im Gegenzug zu ideologischen und oft widersprüchlichen Kritikmustern. Einerseits erscheint ›die Globalisierung‹ als Naturgesetz; andererseits sollen die gierigen Manager an allem schuld sein.
Sahra: Gerade für die radikale Linke ist es zentral zu verstehen, dass der Staat im Kapitalismus nicht einfach ein Ausbeutungs- und Repressionsinstrument der ›Bonzen‹ ist. Und er ist auch kein bloßes Verwaltungsinstrument, das man einfach übernehmen und beliebig für gerechtere Zwecke einsetzen könnte. Das institutionelle Gefüge ›Staat‹ ist wesentlich auf die kapitalistische Weltmarktkonkurrenz ausgerichtet. Der Staat ist – bei Strafe des Untergangs – darauf angewiesen, seine Gesellschaft bzw. seine Bevölkerung erfolgreich an die globale Konkurrenz anzupassen, und zugleich die Wettbewerbsbedingungen zu seinen Gunsten zu verschieben. Der Staat gehorcht damit einer bestimmten Logik, die sich nicht durch guten oder bösen Willen austricksen lässt. Und für die Staatsbürger gilt dasselbe: Die Leute werden hier nicht, bzw. sehr selten einfach gewalttätig unterdrückt. Vielmehr setzt der Staat sie mit seinem Gewaltmonopol und durch das Recht in den Stand einer falschen Freiheit, innerhalb derer sie tatsächlich ›Schmied ihres eigenen (Un-)Glückes‹ sind. Die Chancen der Individuen hängen dabei entscheidend von der Konkurrenzfähigkeit ›ihres‹ Staats ab. Insofern haben bürgerliche Ideologien wie der Nationalismus einen rationalen Kern. Die Bürger bilden tatsächlich eine nationale Schicksalsgemeinschaft untereinander und mit ihrem Staat. In der Wirtschaftskrise wird das vom politischen Personal der BRD auch explizit so formuliert. Dass dabei ständig Menschen auf der Strecke bleiben, und eigentlich alle unter den bürgerlich-kapitalistischen Zwängen leiden, ist nüchtern und ganz demokratisch mit einkalkuliert.
Der Punkt ist wichtig. Auch wenn die ganze Zeit Politik gemacht wird, es Streit zwischen einzelnen staatlichen Behörden gibt, und viele Pläne aus banalen Gründen scheitern, funktioniert der Staat nach einer spezifischen Logik. Und die setzt sich in der bürgerlichen Gesellschaft unabhängig vom konkreten Interesse des Staatspersonals durch. Staaten können natürlich auch ›scheitern‹. Dieses Scheitern ist aber nicht einfach das Ergebnis von Unfähigkeit oder Korruption der Politik. In der Regel sind es die systemischen Zwänge und Krisen der allgemeinen Weltmarktkonkurrenz, die immer wieder einzelne Staaten – und damit jeweils Millionen Menschen – an den ökonomischen Abgrund führen. Soziale Kräfteverhältnisse mögen sich verschieben, diese oder jene Partei die Wahl gewinnen. Aber an der Notwendigkeit, eine im Kapitalismus erfolgreiche Gesellschaft zu organisieren, kommt unter diesen Bedingungen kein Staat vorbei.
Streckenweise bekommt man bei euch den Eindruck, als hinge alles von irgendwelchen ›Strukturen‹ ab, als wären das nur abhängige Variablen!
Welche Rolle haben dann noch soziale Kämpfe, Subjekte und politische Bewegungen?
Ahmet: Das wäre ein Missverständnis. Allerdings eines mit langer Tradition in der marxistischen Linken. Wir haben klar formuliert, dass der Staat nicht als ›Überbau‹ der ›Wirtschaft‹ abgeleitet werden kann, sondern als grundlegendes Element der politischen Ökonomie des Kapitalismus kritisiert werden muss. Ohne den Staat und sein Recht gäbe es gar keine funktionierende kapitalistische Ökonomie. Das heißt aber nicht, dass alle vermeintlich fortschrittlichen ›Rechte‹ zuverlässig durch den Staat garantiert wären. Vor allem die sogenannten ›sozialen Rechte‹ werden ja immer wieder nach Lage der Konjunktur enger oder weiter gefasst. Sie sind damit selbst ein Moment sozialer Disziplinierung. Solche Rechte hat eine Gesellschaft nicht einfach, sie muss sie sich buchstäblich in der Weltmarktkonkurrenz verdienen. Und selbst die vermeintlichen ›Grundrechte‹ stehen im Zweifelsfall zur Disposition, wenn sie in Widerspruch zur nationalen Konkurrenzfähigkeit oder zur Staatssicherheit geraten. Aus der Sicht des Staats ist das auch ganz logisch. Denn ohne die ökonomischen Mittel seiner Gesellschaft, aus denen er sich selbst finanziert, wäre seine ›Souveränität‹ ein leerer Anspruch. Insofern setzt der politische Bezug auf staatliche Rechte immer Herrschaft, Gewalt und die Möglichkeit des Ausnahmezustands voraus.
Sahra: Natürlich braucht es immer Menschen, die staatliche Maßnahmen durchführen. Begriffe führen ja kein Eigenleben. Aber wenn man einmal verstanden hat, wie eng kapitalistische Weltmarktkonkurrenz, Staat und Politik verquickt sind, dann ist klar: Auch der Staat kann nicht einfach aus seiner Haut heraus. In seiner Verbindung mit der nationalen Ökonomie produziert er dauernd Sachzwänge. Diese Sachzwänge sind zwar im Ganzen überwindbar, aber im politischen Tagesgeschäft muss man ihnen nachkommen. Und deshalb finden sich auch immer wieder Menschen, die das machen. Das heißt nicht, dass Politik völlig gegenstandslos wäre. Es macht sehr wohl einen Unterschied, ob kapitalistische Krisen mit nationalökonomischem Pragmatismus aufgefangen werden, oder ob ideologische Schuldzuweisungen die Oberhand gewinnen. Und für einige Bevölkerungsgruppen macht es einen Riesenunterschied, ob die regierende Sozialpolitik ›arbeitnehmerfreundlich‹ ist oder nicht, ob der Innensenator ein Rassist ist oder nicht. Deswegen beteiligen wir uns als Bündnis auch an bestimmten sozialen Protesten oder an Aktionen gegen Nazis.
Doch Politik steht immer wieder vor der Frage: Wie entsprechen wir den kapitalistischen Imperativen – mit welchen Institutionen, welchen Strategien; wie machen wir die nationale Arbeit konkurrenzfähig; und wer muss dafür welche eigentlich überflüssigen Opfer und Härten in Kauf nehmen. Manchmal werden Teile der Bevölkerung symbolisch und administrativ richtiggehend fertig gemacht, um dem ganzen Unsinn von Konkurrenz und Verwertung einen Sinn zu geben, zum Beispiel die angeblichen ›Asyl-‹ und ›Sozialschmarotzer‹. Das sind ideologische Reflexe, die eine scheinbare Erklärung dafür liefern, warum der Kapitalismus trotz der ganzen Plackerei immer wieder in Krisen gerät. Mit der gegenwärtigen Form des Politischen kauft man sich also auch immer wieder die Gewalt und die Ideologie des kapitalistischen Normalbetriebs ein. Die staatspolitische Frage bleibt immer, wie dessen Zumutungen verteilt werden – und nicht ob. Deswegen haben wir ein Interesse daran, die weltweite Herrschaft von Staat und Kapital zu überwinden. Das ist der Maßstab linksradikaler Kritik.
Und es hört sich einigermaßen größenwahnsinnig an. Wie soll das funktionieren?
Ahmet: Den Generalplan haben wir gerade verschlampt. Aber eins ist klar: Der Austritt der Menschen aus ihrer selbst geschaffenen Unmündigkeit muss das Werk bewusster Individuen sein. Und da gibt es sicher noch Einiges zu diskutieren. Aber gerade wer in ganz konkreten Auseinandersetzungen steckt, muss gleichzeitig versuchen zu verstehen, nach welchen Prinzipien die bestehende Gesellschaft funktioniert, und was daran grundlegend falsch und feindlich ist. Insofern sind gesellschaftstheoretische Reflexion und Aufklärung unverzichtbar. Wir glauben ja auch nicht, dass wir die Weisheit mit Löffeln gefressen haben. Man muss sich aber schon bemühen, die grundlegenden Konflikte dieser Gesellschaftsordnung zu verstehen, anstatt sich begriffslos im politischen Alltag aufzureiben – und im Endeffekt an der Modernisierung des Kapitalismus mitzuarbeiten, statt an seiner Aufhebung.
Hier hat die marxistische Linke einiges zu bieten. Sie verfügt über kritische Begriffe und Fragestellungen, unter denen die wirklichen Konfliktverläufe dieser komischen Gesellschaft als ganzer analysiert werden können: der Zusammenhang von Ökonomie und Ideologie, von Demokratie und Ausbeutung. Und nur auf diesem kritischen Niveau von Theorie und Praxis gibt es die Chance, den Teufelskreis der Reproduktion von Staat, Nation und Kapitalismus aufzubrechen. Von alleine reproduziert sich nämlich nur die bürgerliche Ideologie, die bestenfalls sozialdemokratisch ist. Uns ist klar, dass die radikale, antinationale Linke derzeit eine extrem marginale Szene ist. Aber sie hat ein paar gute Argumente auf ihrer Seite.
Sahra: Soziale Auseinandersetzungen und politische Events können dann sicherlich auch ein Ausgangspunkt für linksradikale Mobilisierung sein. Dabei sollte man aber nicht versuchen, wie ATTAC oder die ›Interventionistische Linke‹ die Leute ›da abzuholen wo sie stehen‹. Bekanntlich holt man sich dabei nur deren Standpunkt ab.
Wir zeigen in unserem Text, dass die Institutionen der Politik in entscheidenden Fragen gerade nicht gesellschaftliche ›Teilhabe‹ und ›Mitbestimmung‹ fördern, sondern dass sie sie gerade verhindern. Deshalb müssen wir Staatsfeinde immer wieder nach Möglichkeiten suchen, die Umklammerung der Institutionen und der Politik aufzubrechen – also uns bewusst antipolitisch organisieren, bewusst gegen die staatlichen und zivilgesellschaftlichen Steuerungsroutinen. Da sollten wir experimentierfreudig sein. Der Kapitalismus ist voller Konfliktherde, und welche davon aufbrechen oder aufgebrochen werden können, lässt sich selten im Voraus bestimmen. Die Fabrik ist längst nicht mehr die zentrale Kampfzone. Aber gleichzeitig ist Emanzipation unmöglich, wenn es nicht ge lingt, die gesellschaftliche Reproduktion solidarisch zu organisieren. Das scheint aus heutiger Perspektive komplett illusorisch. Aber es passieren immer wieder Dinge, die man gestern noch für unmöglich hielt.