7. Entwicklungseinheit von Staat und kapitalistischem Privateigentum zur bestimmenden Form gesellschaftlicher Herrschaft
Nicht immer stand das Herrschaftsgefüge ›Staat‹ als Hüter eines einheitlichen und allgemeinen Rechts über den konkurrierenden Individuen und gesellschaftlichen Klassen. Und umfassende formale Rechtsgleichheit aller Einwohner als ›Staatsvolk‹ ist erst im 20. Jahrhundert etabliert worden. Die institutionellen Formen bürgerlich-kapitalistischer Vergesellschaftung entstanden in einem Jahrhunderte langen, krisenreichen Prozess ökonomischer Reform und Revolution. Traditionelle Ausbeutungsverhältnisse wurden ökonomisch untergraben und durch neue Arrangements verdrängt. Dabei durchkreuzten sich immer wieder die Interessen unterschiedlicher Fraktionen des Adels, des zünftigen Handwerks und des entstehenden, kommerziell aufstrebenden Bürgertums. Zwar waren die Entwicklungswege der europäischen Adels- und Patrizierregime in die kapitalistische Produktionsweise äußerst uneinheitlich. In einigen Fällen entstanden bürgerlich-kapitalistische Verkehrsformen aus zentral gesteuerten Manufakturökonomien, während andernorts schon früh eine ›autonome‹ handelskapitalistische Initiative entwicklungsbestimmend werden konnte. Doch stets führte die Durchsetzung dieser Verkehrsformen über eine charakteristische Spaltung ›ökonomischer‹ und ›politischer‹ Machtentfaltung, und damit zu einer institutionellen Verselbstständigung politischer Herrschaft. Traditionelle Herrschaftsprivilegien hatten immer zugleich beides umfasst. ›Ökonomische‹ Macht fußte auf persönlicher oder ständischer Verfügung über die gesellschaftliche Arbeitkraft bzw. über den durch diese geschaffenen Reichtum (Dienst- oder Abgabenpflicht, Steuerprivileg etc.). Und diese privilegierte Verfügung lieferte zugleich die Mittel weitergehender ›politischer‹ Macht, im Sinne eines gewaltbewehrten Kommandos über alle Streitfragen gesellschaftlicher Ordnung. Auch das künftige Handwerk vereinte über Jahrhunderte die Steuerung der gesellschaftlichen Produktion mit ›politischer‹ Machtentfaltung (Zunftverfassungen, Räte und Bürgermeister).
Diese persönliche bzw. ständische Verschmelzung ökonomischer und politischer Macht wurde zugunsten einer Ordnung verdrängt, in der die Konkurrenz ›gleichberechtigter‹ Privateigentümer von einem institutionell verselbständigten und gegenüber jedem Individuum gleichermaßen souveränen Staatsapparat regiert wurde. Diese Entwicklungseinheit von übergeordnetem Staat und kapitalistischem Privateigentum folgt keiner unausweichlichen historischen Notwendigkeit, aber einer bezwingenden und alles andere als freundlichen Logik. Gegenüber traditionellen, statischen und durch tausend Sonderrechte und Pflichten lokal gebunden Reproduktionsformen verdankt der entstehende aristokratische Zentralstaat (als institutionelles System unter zunächst persönlichem Kommando) seine Machtmittel dem gleichen Prozess, der auch den Aufstieg des Bürgertums (als Klasse) bestimmt: der Mobilisierung, Vermehrung und kommerziellen, d.h. geldvermittelten Ausbeutung territorialer und auswärtiger Reichtumsquellen (Naturraum und Arbeitskraft) über Investitionsgewinne bzw. Steuern. Insofern teilten sie zumindest ein ›objektives‹ Interesse gegenüber den traditionsgebundenen Produktions- und Herrschaftsformen: Alleine eine möglichst weitgehend geldvermittelte Anwendung territorialer Ressourcen und Produktivkräfte konnte genügend besteuerbaren Reichtum in einer Form hervorbringen, die notwendig war, um einen überregionalen Herrschaftsapparat aufzubauen und durch all seine Gliederungen hindurch unter einem einheitlichen Kommando zu leiten – eben als Geld. Und alleine eine wachstumsorientierte Anwendung territorialer Ressourcen und Produktivkräfte konnte sicherstellen, dass sich eine solche Zentralgewalt gegen konkurrierende regionale oder auswärtige Machtansprüche behaupten konnte. Die Intensivierung der Ausbeutung heimischer Ressourcen war dazu nur ein möglicher Weg. Eine entscheidende Rolle bei der Entwicklung moderner Staatlichkeit spielte auch die Erschließung auswärtiger Reichtumsquellen durch Seehandel und koloniale Ausbeutung. Denn der Aufbau einer kommerziellen Handelsmarine, ihr Schutz durch eine Kriegsmarine und die Besatzung von Kolonien bzw. Handelsstützpunkten verlangte eine Bündelung gesellschaftlicher Ressourcen, die auf lange Sicht alleine eine organisierte Staatsgewalt garantieren konnte. Umgekehrt sicherte die Kapitalisierung heimischer- und die koordinierte Ausbeutung auswärtiger Reichtumsquellen die materiellen Grundlagen politischer Handlungsfähigkeit des Staats selbst, als Steuerstaat, gegenüber der eigenen Bevölkerung wie gegenüber anderen, konkurrierenden Staaten. Der Ausbau kommerzieller Reichtumsquellen aber verlangte auf lange Sicht einheitliche Konkurrenzbedingungen: ein allgemeines Recht.
Aus der Perspektive der unmittelbaren Produzenten des gesellschaftlichen Reichtums stellt sich dieser historische Prozess äußerst unfreundlich dar. Die Vorgeschichte des bürgerlichen Staats, die Geschichte der Herausbildung seiner materiellen Voraussetzungen und institutionellen Formen in Westeuropa, führt über ihre Entrechtung und Enteignung. Marx fasste diesen Prozess unter den Begriff einer »ursprünglichen Akkumulation«5: Unter adelsstaatlicher Deckung, mit Hilfe seiner Verordnungen und Gewaltmittel, werden traditionelle Rechte, ständische Monopole und kollektive Besitzansprüche außer Kraft gesetzt, naturräumliche Ressourcen unter private, d.h. ausschließende Verfügung gestellt, und personengebundene Ausbeutungsverhältnisse in privatwirtschaftliche Lohnarbeitsverhältnisse transformiert. Für die betroffenen Bauern und Handwerker bedeutete dies zu allererst den Verlust angestammter Subsistenzmittel: durch Vertreibung vom Gemeindeland und von der Parzelle bzw. über die Verdrängung des zünftigen Handwerks durch Heimindustrie und Manufakturen, später durch die große Industrie. Durch Enteignung wie durch wirtschaftlichen Ruin werden sie von ihren teils persönlichen, teils gemeinschaftlichen Produktionsmitteln getrennt, und verlieren damit individuell und kollektiv gesellschaftliche Verfügungsmacht. Unter diesen Bedingungen sind sie gezwungen, gegen einen Lohn für andere zu arbeiten, und zwar zu verschärften Konditionen. Denn der Konkurrenzzwang zu immer produktiverer Arbeit erfordert strenge Arbeitsdisziplin, die durch autoritäre Aufsicht und leistungsabhängige Entlohnung durchgesetzt werden muss. Kapitalistischer Produktivitätsdruck und Kontrollzwang verändern auch den materiellen Arbeitsprozess selbst. Die technische Struktur von Fabriken und Maschinen dient im Kapitalismus nicht alleine einer möglichst einfachen und effizienten Arbeitsverrichtung, sondern zugleich der Kontrolle und möglichst intensiven Ausbeutung der unmittelbaren Produzenten. Verweigerung und Widerstand der Lohnarbeiter beantworteten die entstehenden frühbürgerlichen Regime konsequent mit Koalitionsverboten und polizeilicher Verfolgung. Erst »im Fortgang der kapitalistischen Produktion entwickelt sich eine Arbeiterklasse, die aus Erziehung, Tradition, Gewohnheit die Anforderungen jener Produktionsweise als selbstverständliche Naturgesetze anerkennt« (Marx).6 Von Subsistenzmitteln dauerhaft getrennt, waren die unfreiwilligen Proleten über kurz oder lang zum Selbstzwang unter die Fabrikdisziplin genötigt. Deshalb war die Anwendung freier Lohnarbeit auch effektiver als die gewaltsame Auspressung von kolonialer Zwangsarbeit und selbstständigem Handwerk. Die Freiheit zur Lohnarbeit beläuft sich für die unmittelbaren Produzenten auf den Zwang, jeden Produktivitätswettbewerb mit zu machen, der in der permanenten Konkurrenz privater Kapitale angestoßen wird. Sie ist Freiheit zum Selbstzwang.
Marx beschreibt die Entwicklungseinheit von Staat und kapitalistischem Privateigentum aus der Perspektive des Kapitals. Die »Staatsmacht« habe als »konzentrierte und organisierte Gewalt der Gesellschaft« den »Verwandlungsprozeß der feudalen in die kapitalistische Produktionsweise treibhausmäßig« gefördert und – durch Anwendung ihrer Gewaltmittel – die »Übergänge« abgekürzt. Die Metapher funktioniert auch in umgekehrter Perspektive: Erst die von ständischen Schranken befreite und über das gesamte Territorium ausgedehnte Konkurrenz der Kapitale führt zu jener treibhausmäßigen Entwicklung der gesellschaftlichen Produktivkräfte, der der Staat seine Gewaltmittel und seinen auswärtigen Einfluss verdankt. Erst die rabiate Kapitalisierung der gesellschaftlichen Produktion brachte jenen stetigen Entwicklungsschub, durch den sich die europäischen Handelsmächte zu modernen Industrienationen entwickeln konnten. Ihr Warenausstoß war dem aller anderen Territorien der Welt in Qualität und Menge, also in kapitalistischer ›Wirtschaftlichkeit‹ haushoch überlegen. Privateigentum und Konkurrenz erwiesen sich als unschlagbar wachstumsstarke Formen gesellschaftlicher Reichtumsproduktion. Dieser Reichtum kam zwar zunächst kaum den unmittelbaren Produzenten zugute. Doch aus der Perspektive staatlicher Institutionen – historisch also aus der Perspektive erb- und geldadeliger Staatsbeamter – verdiente der entstehende Kapitalismus als nationalökonomischer Goldesel vorbehaltlose Unterstützung. Je nach Bedarf und Konjunktur lief das mal auf eine Politik des ökonomischen ›laissez faire‹ hinaus, ein andermal auf den Einsatz staatlicher Gewaltmittel oder administrativer Investitionssteuerung. In diesem Prozess wird die kapitalistische Produktionsweise gesellschaftlich entwicklungsbestimmend. Adelige oder grundherrliche Besitz- und Dienstansprüche müssen nicht erst revolutionär entwunden werden. Sie verlieren schon angesichts der kapitalistischen Wachstumsdynamik ihre übergeordnete ökonomische Bedeutung. Umgekehrt begründet aber das kapitalistische Kommando über die gesellschaftliche Arbeit als solches keinerlei staatspolitische Privilegien. Vielmehr entwickeln sich Staat und Privatwirtschaft als nationalökonomische Zugewinngemeinschaft mit getrennten Aufgabenbereihen. Es entsteht ein staatspolitisches Interesse am Wohlergehen des privaten, kapitalistischen Unternehmertums. Und ein Interesse der unterschiedlichen Kapitalfraktionen an einer staatlichen Garantie und Förderung des Privateigentums. Deshalb befand sich das Bürgertum bei seinem Aufstieg zur ökonomisch dominierenden Klasse oft in einer objektiven Interessenkoalition mit der aristokratischen Staatsführung. Es revoltierte meist nur dann und in dem Maße, in dem adelige Klientelpolitik seine eigenen kommerziellen Potenziale lähmte. Das revolutionäre Bürgertum Frankreichs hatte mit der Inhaftierung und späteren Enthauptung Ludwigs XVI. alle Zweifel darüber beseitigt, in wessen Hand sich die gesellschaftliche Macht tatsächlich befand. Danach verzichtete es immer wie der Jahrzehnte lang freiwillig auf eine republikanische Staatsordnung, so lange nur sein Kommando über die gesellschaftliche Arbeitskraft gesichert blieb. Es besteht also ein notwendiger Zusammenhang zwischen Staat und kapitalistischem Privateigentum, aber kein notwendiger Zusammenhang zwischen kapitalistischem Privateigentum und bürgerlich-demokratischer Staatsform. In der ruppigen Geschichte des Kapitalismus kam es immer wieder zu Formen freiwilliger politischer Selbstentmächtigung – so lange die neuen, antidemokratischen Kommandeure der Staatsgewalt nur die gefährdete Ordnung des Privateigentums schützten bzw. wiederherstellten. Solche Fälle offenbaren die ultimative Zweckbestimmung staatlicher Herrschaft ungeschminkt: die gewaltbewehrte Sicherung der kapitalistischen Akkumulation gegen deren eingeborene Tendenz zu Verwertungskrisen und Verteilungskämpfen (die mitunter ideologisch extrem verzerrt ausgetragen werden.)
Die Entwicklung von bürgerlichem Staat und kapitalistischem Privateigentum ist also ein einheitlicher Prozess, in dem gesellschaftliche Macht die getrennten Formen ökonomischer Verfügung und staatlicher Gewalt annimmt. Gemeinsam bilden sie die Grundpfeiler des bürgerlich-kapitalistischen Systems gesellschaftlicher Herrschaft. Der Staat ist nicht der ›Überbau‹ der ›Wirtschaft‹, er gehört zum Fundament der politischen Ökonomie des Kapitalismus.
8. Integration der Klassengesellschaft zum Staatsbürgerkollektiv
Die revolutionäre Hoffnung, dass die fortgesetzte Ausbeutung der Proletarier diese unausweichlich zur Abschaffung aller Ausbeutung und Herrschaft nötigen werde, hat sich nicht erfüllt. Auch die sozialdemokratische Vision einer sich kontinuierlich zum Sozialismus hin entwickelnden Gesellschaft blieb ein Wolkenbild. Die Widerstands- und Integrationskraft des Kapitalismus im 20. Jahrhundert verdankt sich keiner bewaffneten Klassenkoalition von Adel und Bourgeoisie, wie es sie im 19. Jahrhundert immer wieder gab. Auch hat die Bourgeoisie sich den Staat nicht unmittelbar zum Instrument der Ausbeutung gemacht. Entscheidend für den Fortbestand des kapitalistischen Staats durch alle Krisen hindurch war die politische Integration der Arbeiterklasse auf Basis ihrer materiellen Besserstellung. Bei steigender industrieller Arbeitsproduktivität konnte das Güterquantum zunehmen, das sich die Arbeiter für ihren Lohn kaufen konnten, selbst wenn ihr relativer Anteil am gesellschaftlichen Reichtum insgesamt sank. So war die Teilhabe der Proleten an dem von ihnen selbst geschaffenen gesellschaftlichen Reichtum alles andere als eine großmütige Wohltat. Ihre unehmende Absicheung durch Arbeitsschutzgesetze und Sozialleistungen, ihre Eingliederung und Förderung im staatlichen Bildungswesen – all dies entsprach der Notwendigkeit, in der Konkurrenz der Staaten die nationale Arbeitskraft zu entwickeln, und dabei den sozialen Frieden zu sichern. Unter dieser Voraussetzung waren die Kämpfe der Proleten um Partizipation und staatsbürgerliche Anerkennung zugleich Entwicklungsschritte der kapitalistischen Produktionsweise, Schritte zu ihrer Festigung im entwickelten Sozialstaat. Eine Anerkennung der Proleten als Staatsbürger erfolgte gleichwohl nur unter größter Vorsicht, eingeschränkt durch Zensuswahlrecht, Parteiverbote und gesetzliche Knebelung ihrer Machtposition als unmittelbare Produzenten. Volle Staatsbürgerrechte erhielt die deutsche Arbeiterklasse erst, nachdem sie ihre Loyalität zum Vaterland durch den Opfergang des Ersten Weltkriegs bestätigt hatte.
Die Abhängigkeit der Staatsbürger vom Erfolg der nationalen Reichtumsproduktion überlagert objektiv den Klassengegensatz, an den die parteimarxistsche Dogmatik lange ihre Revolutionshoffnungen geknüpft hatte. Dass sich die Proletarier aller Länder im ersten Weltkrieg gegenseitig zu Hunderttausenden fürs jeweilige Vaterland abschlachteten, anstatt – wie im Kommunistischen Manifest von 1848 vorgesehen – als bewaffnete Klasse zum revolutionären Anwalt der gesamten Menschheit gegen Herrschaft und Ausbeutung zu werden, dokumentiert nicht in erster Linie fehlendes ›Klassenbewusstsein‹. Es offenbarte vielmehr den historischen Stand der objektiven Verstaatlichung der Proletenklasse, ihrer Integration ins nationalökonomische ›Wir‹. Ihre sozialstaatliche Hege und bevölkerungspolitische Pflege als Reichtumsquelle der bürgerlichen Gesellschaft gab dem proletarischen Humankapital einen realen und ›guten‹ Grund zur Hoffnung: der Hoffnung, nach der kriegerischen Neubestimmung der Machtverhältnisse unter den führenden kapitalistischen Staaten künftig als nationale Arbeiterklasse dauerhaft auf der Siegerseite der Geschichte zu stehen. Gegenüber der Perspektive eines ›revolutionären Internationalismus‹ gehörte es bereits damals zu den handfesten Erfahrungen der Proleten, dass ihr Auskommen von der nationalökonomischen Gesamtbilanz ihres Staats in der Kolonial- und Weltmarktkonkurrenz abhing. Und dass sie in diesem Rahmen tatsächlich etwas zu gewinnen und zu verlieren hatten.
Der spätaristokratisch-bourgeoise Klassenstaat des 19. Jahrhunderts wandelte sich mit der Entwicklung eines staatlichen Sozialversicherungswesens um die Jahrhundertwende und im frühen 20. Jahrhundert tendenziell zu einem klassenübergreifenden Gesellschaftsplaner in der Konkurrenz der nationalen Kapitale. Polemisch gesprochen organisierte der entstehende Sozialstaat sein Personal – Bourgeois wie Proletarier – durch solche Transfersysteme objektiv zur Volks- und Schicksalsgemeinschaft im internationalen Wettbewerb. Das liberale Klasseninteresse an der freien Konkurrenz, das sich gleichermaßen gegen adelige Privilegien und proletarische Unbotmäßigkeit wandte, transformierte sich zum nationalökonomischen Gesamtinteresse, das auch die Befindlichkeiten der nationalen Arbeitskraft berücksichtigt. Dadurch sind die konkurrierenden Interessenstandpunkte der kapitalistischen Konkurrenz natürlich nicht aufgehoben. Sie sind nur weit unmittelbarer als zuvor an den Konkurrenzerfolg der Nationalökonomie als ganzer geknüpft, und verändern damit ihren Charakter: Aus Klassenkämpfen wird ein sozialpolitischer Ideenwettbewerb, der sich in staatsnahen Interessenverbänden organisiert: in institutionell anerkannten Gewerkschaften und Unternehmerverbänden unter staatlichem Recht, in Deutschland sogar mit Verfassungsrang (Art. 9 GG – Bezeichnenderweise existieren in Deutschland so gut wie keine antikapitalistischen Strömungsgewerkschaften. Statt dessen unterwirft sich die organisierte Arbeiterschaft von vornherein in Branchengewerkschaften den jeweiligen Konjunkturzyklen ihrer Unternehmen, und kooperiert mit entsprechenden Unternehmerverbänden als ›Tarifpartner‹.) Als Organe der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaftsordnung kanalisieren diese Interessenverbände der nationalen Arbeit und des nationalen Kapitals die Konkurrenz um den gesellschaftlichen Reichtum – und bestätigen sie damit als gesellschaftliches Prinzip. Aus der Perspektive des Staats erscheint der ökonomische Wettbewerb als ein sorgfältig zu moderierendes Instrument der gesellschaftlichen Gesamtplanung. Lohnarbeit und Kapital unterstehen seither gleichermaßen einer zuweilen sogar staatlich dekretierten ›Gemeinwohlverpfl ichtung‹ – auf die sie sich als ›Tarifpartner‹ und ideologische Anteilseigner der Nation auch immer wieder gegenseitig aufmerksam machen.
Dabei gibt es kaum ein bestimmtes, einzelnes Politikziel, das eindeutig im Interesse ›der Kapitalisten‹ als Klasse läge. Die Kapitalisten sind einander Feind in der Konkurrenz um ihre Profite und Investitionschancen. Der Staat subventioniert einzelne Kapitalinteressen oder streicht sie durch, abhängig von seiner Einschätzung des nationalökonomischen Gesamtnutzens. Friedrich Engels hat diese Stellung und Funktion des Staates auf den Begriff des ›ideellen Gesamtkapitalisten‹ gebracht. Der »moderne Staat« sei nichts anderes als »die Organisation, welche sich die bürgerliche Gesellschaft gibt, um die allgemeinen äußern Bedingungen der kapitalistischen Produktionsweise aufrechtzuerhalten gegen Übergriffe, sowohl der Arbeiter wie der einzelnen Kapitalisten«.7
9. Staat als ›ideeller Gesamtkapitalist‹ – und das Individuum
Engels’ Begriff des »ideellen Gesamtkapitalisten« erfaßt die klassenübergreifende Funktion des Staats, auf seinem Territorium die Rahmenbedingungen einer entwickelten kapitalistischen Ökonomie zu sichern und auszubauen. Also Voraussetzungen zu schaffen, die die »bürgerliche Gesellschaft« im engeren Sinne – die in tausend Interessenstandpunkte zerrissene Gesellschaft der Privateigentümer – nicht selbst garantieren kann. Die Konkurrenz der ökonomischen Akteure und die eingeborene Krisentendenz der kapitalistischen Gesellschaft als ganzer erfordern eine Ordnungs- und Aufsichtsinstanz, die keine eigenen privatwirtschaftlichen Interessen verfolgt, sondern jeweils die ›gesamtwirtschaftliche Lage‹ moderiert. Die Durchsetzung eines allgemeinen Rechts ist dabei nur Grundlage viel handgreiflicherer Fördermaßnahmen des Staats. Was genau unter die von Engels so genannten »allgemeinen äußeren Bedingungen der kapitalistischen Produktionsweise« fällt, hängt vom Entwicklungsstand und den Besonderheiten der jeweiligen kapitalistischen Nationalökonomie ab. Als ideeller Gesamtkapitalist versucht der Staat, jederzeit gerade diejenigen Ressourcen und Institutionen zu entwickeln, die der kapitalistischen Akkumulation auf seinem Territorium insgesamt dienlich sind, die aber zu einem gegebenen Zeitpunkt nicht als privates Geschäft betrieben werden können. Sei es, weil solche Leistungen keinen hinreichenden Profit abwerfen; sei es, weil ein privater, kapitalistischer Interessenstandpunkt den öffentlichen Zweck solcher Institutionen nicht zuverlässig gewährleisten kann. Auch das Personal des Staates bleibt in der Gesellschaft des privaten Reichtums der Versuchung ausgesetzt, die ihm übertragene Hoheitsgewalt für persönliche Vorteile auszunutzen. Deshalb verlangt der Staat seinen Beamten einen Treueid ab, erhöht also das Strafrisiko, und erkauft zugleich Loyalität durch überdurchschnittliche Entlohnung und Arbeitsplatzsicherheit.
Als ideeller Gesamtkapitalist muss der Staat auch die übergreifenden infrastrukturellen Voraussetzungen der Kapitalakkumulation auf seinem Territorium sichern und ausbauen. Er tut dies über gesetzliche Auflagen, steuerliche Anreize, steuerfinanzierte Investitionen in die Privatwirtschaft, über eigene Infrastrukturprojekte, und über öffentliche Institutionen. Eine zentrale Aufgabe ist hier der teure und oft wenig profitable, aber für das nationalökonomische Wachstum unverzichtbare Verkehrswegebau. Kanäle, Brücken, Landstraßen und Schnellstraßen wurden immer dann in staatlicher Regie gebaut, wenn keine kommerzielle Verwertung möglich schien. Dagegen wurden Eisenbahnlinien im 19. Jahrhundert häufig durch private Aktiengesellschaften finanziert, und erst später in staatliches Eigentum überführt – als ihre nationalökonomische Bedeutung gestiegen und ihr Nutzen fürs Militär offensichtlich geworden war. Mit zunehmender Differenzierung der kapitalistischen Nationalökonomie entstand auch ein gesamtwirtschaftliches und damit staatliches Interesse an einer hinreichend ausgebildeten Bevölkerung. ›Hinreichend‹ ist der Bildungsstandard, wenn eine Bevölkerung alle technischen und organisatorischen Herausforderungen bewältigen kann, die auf einem gegebenen ökonomischen Entwicklungsstand im Durchschnitt bewältigt werden müssen. Das kann von Staat zu Staat ganz unterschiedlich ausfallen, und so sehen die Schulen dann auch aus. Mit öffentlichen Schulen, Schulgesetzen und der tatsächlichen Durchsetzung einer teils zuvor schon bestehenden Schulpflicht versuchten die europäischen Staaten im ausgehenden 19. Jahrhundert, die nachwachsende nationale Arbeitskraft vor einer allzu frühen Vernutzung und Verblödung in der elterlichen Landwirtschaft bzw. in der entstehenden kapitalistischen Industrie zu schützen, und etwas brauchbares aus ihr zu machen. Noch deutlicher ist der Verwertungsbezug in einigen Wissenschaftszweigen. Langfristige, teure und damit wenig profitable ›Grundlagenforschung‹ wird an steuerfinanzierten Hochschulen und Forschungszentren betrieben; sobald Forschungsergebnisse verwertbar scheinen, werden sie in kapitalistischen Unternehmen zur ›Produktreife‹ gebracht. Ab diesem Zeitpunkt sind sie ›geistiges Eigentum‹ des privaten Unternehmens – und werden als solches wiederum vom Staat geschützt.
Einige der beschriebenen Aufgaben wechseln immer wieder zwischen Staat und Privatwirtschaft – je nach dem, ob daraus gerade ein lohnendes Geschäft zu machen ist oder nicht. Zu den im engeren Sinne hoheitlichen Staatsfunktionen gehört dagegen die Ausgabe einer einheitlichen Geldwährung als allgemeines ›Zahlungsmittel‹ und ihre geldpolitische Steuerung, meist durch eine National bzw. Zentralbank.8 Zwar haben im entstehenden Kapitalismus zuerst private Geschäftsbanken Notengeld als Zahlungsmittel ausgegeben – also institutionell verbürgte Zahlungsversprechen auf eine bestimmte Menge Edelmetall. Das Wort ›Banknote‹ verrät das noch heute. Aber die nationalökonomischen Vorzüge einer einheitlichen Währung und einer koordinierten Geldpolitik haben in allen Ländern, in denen kapitalistische Produktionsweise herrscht, den Staat auf den Plan gerufen. Seine geldpolitische Souveränität bietet Ansatzpunkte, die nationalökonomische Entwicklung als ganze flexibel und vergleichsweise schnell, wenn auch indirekt zu steuern. Seine Maßnahmen zur Regulierung von Geldmenge und Zinsniveau beeinflussen die Verfügbarkeit und den Preis des privaten Geldkredits, der Grundlage jedes kapitalistischen Wachstums ist. Vermittelt über seine Ausgabekonditionen gegenüber Privatbanken und der gesetzlichen Regelung ihrer Kreditvergabe kann der Staat bzw. seine Zentralbank versuchen, die private Kreditaufnahme anzuregen oder zu zügeln, und so gesamtwirtschaftliche Ziele (Preisstabilität, Wachstum) zu fördern bzw. Verwertungskrisen abzumildern. Dies aber nur, wenn er seine geldpolitische Souveränität im privaten Geschäftsverkehr auch tatsächlich durchsetzen kann. Deshalb verteidigt der Staat in der Regel seine Währung als exklusives Zahlungsmittel, verbietet also auf seinem Territorium andere Zahlungsmittel, zumal auswärtige Währungen. Denn durch deren Verwendung würde seine Wirtschaft in Abhängigkeit von auswärtiger Geldpolitik geraten – also in recht unmittelbare Abhängigkeit von den konjunkturellen Interessen anderer Staaten. Geldwährungen sind eben doch nicht bloß harmlose ›Tauschmittel‹, die den ökonomischen Verkehr vereinfachen. Sie sind Instrumente staatlicher Machtentfaltung in einer Gesellschaft, in der Konkurrenz und Ausbeutung in der Form des ›freien Tauschs‹ von Ware und Geld organisiert sind. Doch gerade deshalb bleibt geldpolitische Souveränität auch jederzeit den prinzipiell unvorhersehbaren Konjunkturen kapitalistischer Konkurrenz unterworfen.
Als ›ideeller Gesamtkapitalist‹ handelt der bürgerliche Staat also nicht nur unter außergewöhnlichen Bedarfslagen und besonderen konjunkturellen Herausforderungen. Seine gesamte Politik und seine differenzierte institutionelle Struktur bestimmen und entwickeln sich stetig an der Notwendigkeit, die heimische Wirtschaftskraft zu fördern, sie in der internationalen Konkurrenz zu protegieren, und den sozialen Frieden durch Transferleistungen zu sichern. Der Staat muss dabei ständig Interessen einzelner Klassen, Branchen, Unternehmen und Interessenverbände relativieren am übergeordneten Interesse eines insgesamt möglichst großen und nachhaltigen Wachstums seiner Nationalökonomie. Schon deshalb ist staatliche Politik nicht einfach durch bestimmte ökonomische Interessen festgelegt – wohl aber durch den allgemeinen Zwang, in jeder Situation ein gesamtwirtschaftliches Optimum zu schinden.
Der integrierte bürgerliche Staat ist damit nicht einfach ein Instrument oder Erfüllungsgehilfe der Bourgeoisie, der ›Wirtschaftsbonzen‹ und Manager. Er ist kein bloßer »Ausschuß, der die gemeinschaftlichen Geschäfte der ganzen Bourgeoisklasse verwaltet«, wie es noch im Kommunistischen Manifest von 1848 polemisch hieß. Jedenfalls ist er das nicht mehr. Denn in den integrierten bürgerlichen Staaten des 20. und 21. Jahrhunderts, in denen die ökonomischen Individuen als freie und gleiche Privateigentümer kontrahieren, sind auch die Proletarier nicht mehr nur rechtlose Hungerleider, sondern anspruchsberechtigte Staatsbürger, anerkannte Quellen des nationalen Reichtums. Ihren Aufstieg verdanken die Proleten nicht nur ihrem ›starken Arm‹, den sie sich als unmittelbare Produzenten des kapitalistischen und nationalstaatlichen Reichtums sauer antrainieren mussten, sondern der staatlich organisierten Weltmarktstellung der kapitalistischen Nationalökonomie als ganzer. Erst in diesem Rahmen entscheidet sich, welche Entwicklungschancen einzelne ökonomische Akteure und Klassen überhaupt haben. Diese Abhängigkeit individueller Lebenschancen vom Wachstum bzw. den Verwertungskrisen des nationalen Gesamtkapitals verallgemeinert auch die Perspektive des ›ideellen Gesamtkapitalisten‹: Weil tendenziell alle Individuen direkt oder indirekt von den Konjunkturen der Nationalökonomie betroffen sind, nehmen auch sie immer wieder spontan den Standpunkt des ›ideellen Gesamtkapitalisten‹ ein. Die Sorge um die staatlichen Reproduktionsbedingungen des Kapitals ist im entwickelten Kapitalismus eine automatische Gefühlslage der verstaatlichten Individuen. Sie überformt den im Kapitalismus unausweichlichen Zwang, das eigene Auskommen als Privateigentümer gegen andere zu erringen. So entsteht eine charakteristische Schizophrenie staatsbürgerlicher Existenz: ein Widerspruch zwischen dem kapitalistischen Zwang zu rücksichtslosem Eigennutz und einer abhängigen Loyalität gegenüber den ›gesamtkapitalistischen‹ Zwecken des Staats und der nationalen Ökonomie. Dabei erscheinen die Entwicklungsziele des Staats – jedenfalls im Kontrast zu den bornierten privaten Konkurrenzstandpunkten – zu Unrecht als durch und durch gemeinnützig.
Infolge der Systemkrise des Jahres 2008/2009 haben die kapitalistischen Industriestaaten ihre Rolle als ideelle Gesamtkapitalisten offen anerkannt. Die verabschiedeten staatlichen ›Rettungspakete‹ sind auf die Bedürfnisse der jeweils eigenen Nationalökonomie zugeschnitten. Auch eine mögliche Teilverstaatlichung heimischer Banken macht Staaten nicht zu unternehmerischen Wettbewerbern im Finanzsektor. Sie dient vor allem der Sicherung des privaten Bankenkredits für die nationale Industrie, wo ›der Markt‹ alleine diese Kredite nicht mehr zur Verfügung stellt. Doch die nationale Produktion ist nicht die einzige Reichtumsquelle des nationalen Unternehmertums und damit des Staats. Deshalb hat die Krisenregulation eine internationale Dimension. Es sollen globale Regeln eines möglichst nachhaltigen Weltkapitalismus aufgestellt werden – zu möglichst günstigen Konditionen für die eigene nationale Wettbewerbsposition in der globalen Konkurrenz.
10. Staat als Sachwalter der nationalen Konkurrenz um den Reichtum der Welt
Jahrhundertelang führten die Mutterländer des Kapitals immer wieder kriegerischen Wettstreit um die Dominanz im Welthandel, um die Aufteilung kolonialer Territorien und eine möglichst effiziente Auspressung ihrer Bevölkerungen. Heute konkurrieren diese Staaten weltweit in der Form eines vertraglich regulierten ›Weltmarkts‹, also unter Voraussetzung gegenseitiger Anerkennung. Die internationale Geltung ihrer Ökonomie bestimmt sich nicht alleine daran, was heimische Unternehmen technisch auf die Beine stellen können, d.h. welche nützlichen Güter sie zu produzieren in der Lage sind. Entscheidend ist, ob diese Unternehmen mit ihren Waren auf auswärtigen Märkten bzw. auf dem kapitalistischen Weltmarkt als ganzem konkurrenzfähig sind und bleiben können, und ob sie ihr Kapital auch jenseits der eigenen Landesgrenzen erfolgreich verwerten können. Ist dies der Fall, dann wächst in aller Regel die heimische Ökonomie, also der private Reichtum, der die Grundlage künftigen Wachstums bildet, und aus dessen Besteuerung der Staat seine Mittel schöpft. Deshalb sind Staaten weltpolitische Sachwalter und Agenten der globalen Berwertungschancen ihrer nationalen Ökonomien. Die Fürsorge des Staats für die allgemeinen Bedingungen und speziellen Chancen der Kapitalakkumulation endet also nicht an seinen Landesgrenzen. Diese begrenzen zwar seine anerkannte Souveränität, d.h. sein Gewaltmonopol, nicht aber seine politischen, ökonomischen und gegebenenfalls militärischen Erpressungspotenziale.
Auswärtige Ökonomien, ob kapitalistisch oder nicht, bieten dem Kapital heimischer Unternehmen vielfältige Möglichkeiten, Profite zu machen und sich erweitert zu reproduzieren. Kapital als solches ist ›vaterlandslos‹: Weil es sich nur in ständiger Verwertung erhalten und vergrößern kann, strebt es stets dort hin, wo eine profitable Investition möglich scheint, egal hinter welcher Grenze. Aus staatlicher Perspektive ist gegen das auswärtige Engagement nestflüchtiger Kapitale nichts einzuwenden. Entscheidend ist, wie sich dieser Kapitalexport in der unternehmerischen und fiskalischen Gesamtbilanz niederschlägt; ob er heimisches Wachstum mindert, oder durch Erschließung neuer Verwertungszonen gerade fördert. Doch eine wechselseitige Marktöffnung beinhaltet auch die Gefahr, dass heimische Unternehmen oder ganze Branchen von der auswärtigen Konkurrenz verdrängt werden. Denn Freihandel führt zum direkten Vergleich ausländischer und inländischer Produktivität. Deshalb bemühen sich Staaten um eine maßgeschneiderte außenwirtschaftspolitische Strategie, die den eigenen nationalökonomischen Nutzen maximiert, und Erfolge auswärtiger Unternehmen erschwert – etwa durch Zölle, Handelsquoten, Wechselkurspolitik und restriktive Qualitätsauflagen.
Das System nationaler Schutzzollbarrieren wurde seit Mitte der siebziger Jahre immer weiter gelockert, zugunsten einer von den produktivkräftigen Industrienationen durchgesetzten Doktrin des ›freien Marktes‹. Dieser Welt der befreiten Konkurrenz können alle Staaten beitreten – sofern sie sich ihren Regeln unterwerfen. Regeln, die die führenden Industrie- und Welthandelsmächte im Interesse ihres außenwirtschaftlichen Wachstums aufgesetzt und institutionalisiert hatten, und die sie durch ihre Dominanz in den Institutionen des Welthandels fortschreiben und zu ihren Gunsten auslegen. Ihr vornehmer Verzicht auf gewaltsame Ausbeutung und militärische Marktöffnung bedeutet nicht, dass die Konkurrenz der nationalen Ökonomien sich inzwischen in ein freundliches Geben und Nehmen verwandelt hätte. Der Begriff ›Weltmarkt‹ legt hier allzu harmonische Austauschbeziehungen nahe. Denn selbst ›gerechte‹, normal gleichberechtigte ›Terms of Trade‹ gehen zu Lasten des aufs Ganze betrachtet schwächeren, d.h. weniger produktiven ›Handelspartners‹. Dessen Kapitale sind zu klein, sein Kredit zu gering, und sein einziger Wettbewerbsvorteil – billige Lohnarbeit – ist notorisch wachstumsschwach. Doch angesichts der Entwicklungsdynamik des Kapitalismus ist für die meisten dieser ökonomisch unterlegenen Staaten die Öffnung und Produktion für den Weltmarkt die einzige Möglichkeit, überhaupt an Technologie und Kapital zu kommen. Und die sind Grundvoraussetzung jeder eigenständigen Produktivitätsentwicklung. Im Gegenzug für entsprechende Kredite, Bürgschaften und Handelsabkommen verpflichten sich die abhängigen Souveräne gegenüber Geberstaaten (bzw. gegenüber den von den führenden kapitalistischen Staaten gesteuerten internationalen Währungs-, Kredit- und Handelsinstitutionen IMF, ›Weltbank‹ und WTO), ihre Hoheitsgewalt im Sinne des Systems globaler Kapitalverwertung einzusetzen: Durch Öffnung ihres Landes für Waren, Dienstleistungen und Investitionen aus den entwickelten Industriestaaten; durch Privatisierung von Staatsmonopolen und öffentlichen Diensten, also Kapitalisierung der gesellschaftlichen Reproduktion; durch geldpolitische Disziplin, Garantie des nationalen Schuldendienstes und politische Gefügigkeit. Die Regierungen der betroffenen Länder wissen genau, dass private Investoren aus den entwickelten kapitalistischen Industriestaaten sich ihr erhöhtes Ausfallrisiko durch erhöhte Renditen bezahlen lassen, und dabei nicht immer zimperlich mit den örtlichen Bevölkerungen und ihrem Lebensraum umgehen. Entsprechend rigoros setzen sie ihre staatlichen Gewaltmittel gegen sozialen Protest ein, der das ›Vertrauen‹ in die Stabilität ihres Investitionsstandorts erschüttern könnte.
Den entwickelten kapitalistischen Staaten garantierte ihr Zugang zu Märken, Rohstoffen und Lohnarbeit jenseits ihrer Grenzen über Jahrzehnte ein zuverlässiges Wachstum. Die ›unsichtbare Hand‹ des ›Markts‹ wirkte auch hier nur in Bahnen, die die kapitalistischen Industrie- und Handelsstaaten selbst gezogen hatten. Welche wirtschaftspolitische Strategie der Benutzung des Auslands den höchsten Gesamtnutzen für die heimische Ökonomie erbringt, und welche Elemente dieser Strategie dann auch tatsächlich im diplomatischen Ringkampf der Kapitalexporteure und ›Standorte‹ durchsetzbar sind, entscheidet sich immer wieder neu. Auch unter Bedingungen des ›freien Markts‹ für Kapital, Waren und Dienstleistungen stehen entwickelten kapitalistischen Staaten zahlreiche Instrumente zur Verfügung, den Konkurrenzerfolg der heimischen Ökonomie zu fördern: durch bevorzugte Kreditvergabe, mehr oder weniger versteckte Subventionen, Investitionsbürgschaften, administrative Marktbarrieren gegen ausländische Kapitale etc. Zudem müssen sie versuchen, mit ihren jeweiligen geld- und währungspolitischen Mitteln (Steuerung des Wechselkurses, Zinspolitik, Kreditaufnahme) die Konkurrenzposition der nationalen Ökonomie gegenüber anderen Nationalökonomien bzw. Währungszonen zu verbessern. Denn der Preis bzw. die Preisstabilität der heimischen Währung auf dem internationalen Devisenmarkt – also im Verhältnis zu anderen Währungen – ist entscheidend für den Zugang der heimischen Industrie zu auswärtigem Kredit, für den außenwirtschaftlichen Wert der heimischen Währung, und für die globale Wettbewerbsfähigkeit der heimischen Exportproduktion. Staatliche bzw. europäische Währungspolitik ist also jederzeit ein Instrument globaler ökonomischer Konkurrenz. Ausschlaggebend für außenwirtschaftspolitische Machtentfaltung ist wiederum die Konkurrenzfähigkeit heimischer Unternehmen, Volumen und Wachstum der Nationalökonomie als ganzer, die Kaufkraft der nationalen Währung – und in Abhängigkeit davon das steuerfinanzierte militärische Erpressungspotenzial eines Staates oder Staatenbündnisses. Nicht jeder Krieg und nicht jede ›humanitäre Intervention‹, die die militarisierten Großmächte des Weltkapitalismus führen, verfolgt ein primär ökonomisches Interesse. Doch ihre Militärmacht ist die beste Garantie dafür, dass der nachfolgende Frieden nach den Bedürfnissen eines Weltmarktsystems organisiert wird, dem diese Staaten ihre ökonomische Dominanz verdanken.
Nach dem ökonomischen Ruin des Staatssozialismus in den 80er Jahren mussten auch die sozialistisch inspirierten Regierungen des abhängigen Südens einsehen, dass die vorbehaltlose Teilnahme am kapitalistischen Weltmarkt ihre einzige Chance blieb, überhaupt und vielleicht eine wachstumsfähige Ökonomie zu entwickeln. Selbst die Bedeutung strategischer Ressourcen (Bodenschätze) als Machtmittel steht und fällt mit den Konjunkturen der globalisierten Ökonomie. So wird der venezolanische ›Sozialismus‹ durch Erdöl-Exporterlöse aus dem imperialistischen Ausland, insbesondere aus den USA finanziert. Nur deshalb kann dieser Staat seine Bildungs- und Sozialausgaben bezahlen, und sein Heer von Angestellten und Frührentnern bei Laune halten. Da Venezuela nicht einmal Ärzte in hinreichender Zahl ausbilden kann, werden sie gegen Petrodollars aus Kuba geliehen. Auch dieses Volksbeglückungsprogramm findet also seine Grenze an einer im internationalen Wettbewerb dauerhaft rückständigen nationalen Produktivkraft. Schon zur profitablen Förderung und Raffinierung des Erdöls bleibt Venezuela auf die westlichen Konzerne angewiesen. Bricht die Erdölnachfrage konjunkturbedingt ein, leidet nicht nur die venezolanische Erdölbranche, sondern der Staat als ganzer, und mit ihm die materielle Wohlfahrt jedes einzelnen Bürgers.
11. Staatssozialismus?
Die institutionell gestützte Dynamik des kapitalistischen Weltmarkts war dem Entwicklungsmodell des staatssozialistischen Blocks auf Dauer haushoch überlegen. Der faktische Bankrott dieser Staaten belegt dabei in erster Linie, dass sie alles andere als ›kommunistisch‹ waren. Denn eine kommunistische Gesellschaft emanzipiert sich von der ökonomischen Konkurrenz, vom Wettstreit um den privaten und geldwerten ›Tausch‹ von Gütern als Waren. Sie kann deshalb auch nicht ›Minus machen‹ oder ›bankrott gehen‹. Weil die Staaten des Ostblocks den ökonomischen Produktivitätswettstreit mit dem kapitalistischen Westen suchten, blieben ihre Ökonomien vom Welthandelssystem als Technologie- und Devisenquelle abhängig. Bilaterale Handelsverträge mit dem westlichen Ausland machten sozialistische Bruderstaaten zu Weltmarkt- und Devisenkonkurrenten.
Über mehrere Jahrzehnte waren die Ostblockstaaten ökonomisch hochproduktiv. Nach den Zerstörungen des 2. Weltkriegs entwickelten sich einige von ihnen sprunghaft. Insbesondere die DDR gehörte zu den führenden Industriestaaten der Welt. Staatliche Gesamtplanung stand dem nicht im Weg – wie ja auch im freien Westen die Entwicklung der Schwer- und Montanindustrie durch nationale und internationale Entwicklungsprogramme gefördert wurde. Anders als in kapitalistischen Staaten stützten die Ostblockstaaten insgesamt kein System privatkapitalistischer Produktivitätskonkurrenz. Doch ebensowenig verwirklichten ihre ökonomischen Planwerke die Freiheit selbstbewußter gesellschaftlicher Produzenten. Ihre Produktionssteuerung unterstand staatspolitischen Zwecken und Zwängen. Maßgeblich waren in letzter Instanz nicht Entwicklungsziele der technischen Naturbeherrschung und Güterversorgung, sondern die Imperative der bewaffneten Systemkonkurrenz. Es regierte nicht Produzentenautonomie, sondern Staatszwang. Und genau deswegen haben die meisten Kopf- und Handarbeiter des Sozialismus die staatlichen Planziele nicht als ihre Zwecke erkannt, und in der Produktion des gesellschaftlichen Reichtums höchstens Dienst nach Vorschrift geleistet. Die Staatsmacht wiederum hat ihr Menschenmaterial immer wieder durch gezielt eingesetzte ›Marktelemente‹ zu mehr Einsatz angehalten. Das funktionierte auch – und sagt damit einiges über den sogenannten ›Markt‹, der eben doch eine Leistungspeitsche ist. Die Menschen entschieden sich dann 1989/90 einfach für das Original: Selbstzwang mit Aussicht auf private Reichtumsprivilegien, statt Staatszwang ohne.
Der Ostblock fiel in einem Kalten Krieg. Aber nicht durch diplomatische Eiszeit oder kuscheligen ›Wandel durch Annäherung‹. Sondern weil sein autoritärer, ›integraler Etatismus‹ (Max Horkheimer) in einer sich ständig verschärfenden Produktivitätskonkurrenz nicht mithalten konnte, und sich folgerichtig im Rüstungswettlauf übernahm. Der Untergang des Staatssozialismus beweist nicht, dass eine herrschaftsfreie Gesellschaft unmöglich ist, sondern dass er selbst keine war – auch weil der kapitalistische Westen ihn von Anfang an daran hinderte, eine zu werden.
12. Betriebs- und Staatstreue der Lohnarbeit unterm Konkurrenzzwang
In den entwickelten kapitalistischen Staaten hat sich die anschauliche Unterscheidung der Staatsbürger nach ihrer Klassenlage, die bis weit ins 20. Jahrhundert viele Gesellschaftspanoramen bestimmte, in eine Vielfalt scheinselbstständiger Lebenslagen aufgelöst. Damit ist aber für die meisten Menschen nicht der lebensbestimmende Zwang aufgehoben, ihre Arbeitskraft gegen Lohn an ein Kapital zu verkaufen, das damit etwas profitables anstellen will. Diesseits der politischen und zugleich antipolitischen Perspektive, den Lohnarbeitszwang abzuschaffen und die gesellschaftliche Produktion solidarisch zu organisieren, bleiben die Individuen darauf festgelegt, ihr Glück und ihr Auskommen in Konkurrenz gegeneinander zu gewinnen. Als Lohnabhängige sind sie gleichzeitig vom Konkurrenzerfolg ›ihres‹ Arbeitgebers abhängig. Schon im betrieblichen Alltagsgeschäft ist jeder Einsatz für das eigene Unternehmen zugleich ein Einsatz gegen den Arbeitsplatz anderer Lohnabhängiger in konkurrierenden Betrieben. Vermeintlich ›arbeitsplatzsichernde‹ Zugeständnisse von Belegschaften an ›ihren‹ Betrieb (Mehrarbeit, Lohnverzicht) zwingen Belegschaften konkurrierender Betriebe die gleichen Opfer auf, oder verdrängen sie vollständig vom Markt.
Individuelle und betriebliche Konkurrenzchancen sind zugleich vom übergreifenden Erfolg oder Misserfolg der nationalen Reichtumsproduktion in der Weltmarktkonkurrenz abhängig. Ob ein Einzelkapital überhaupt Chancen hat, sein Glück auf dem Weltmarkt zu versuchen, hängt bereits von der Währung ab, in der es bilanziert wird. Also von der ökonomischen Potenz des Staats, der es – das Einzelkapital – durch Diplomatie, Infrastruktur, Kredite und Bürgschaften zu fördern versucht. Im unbestechlichen Weltmarktvergleich der produktiven Potenzen und Rationalisierungsmöglichkeiten entscheidet sich, ob ein Territorium mit seiner Bevölkerung überhaupt noch als Standort lohnender Verwertung in Frage kommt, und zu welchen Strukturanpassungen es dabei gezwungen sein wird. Der Appell an ›soziale Errungenschaften‹, die nicht aufgegeben werden dürften, stößt hier an die objektive Grenze ihrer Finanzierbarkeit. Denn soziale Garantien kapitalistischer Staaten sind an Steuereinnahmen gebunden. Und sie sind naturgemäß gerade dann besonders nachgefragt, wenn das Steueraufkommen sinkt: in Zeiten einer gesamtwirtschaftlichen Flaute oder Krise. Und so sorgte etwa in Deutschland die konjunkturelle Großwetterlage dafür, dass ausgerechnet die Sozialdemokratie den größten Sozialabbau der Geschichte durchzusetzen hatte. In den sozialstaatlichen Versicherungs- und Transfersystemen verschränken sich seither viel unmittelbarer fürsorglich-integrative und disziplinierende Instrumente der Bevölkerungspolitik. Wo der konkurrenzvermittelte Zwang zum Selbstzwang und liberalisierte Formen sozialer Lenkung nicht greifen, werden die Agenturen des Staats unmittelbar pädagogisch aktiv.
Aus der Erfahrung heraus, dass ein einmal erreichtes Niveau bescheidenen Massenwohlstands im Kapitalismus stets gefährdet bleibt, und nur durch einen anhaltenden, bestenfalls weltweiten Konkurrenzerfolg der einheimischen Unternehmen zu halten ist, registrieren die staatsbürgerlichen Individuen jedes Anzeichen nationaler Schwäche als Vorzeichen künftiger Einschnitte. Es entsteht ein alarmistisches Wahrnehmungsmuster, das alle Anzeichen nationaler Schwäche als Bedrohung erfasst. Dabei fällt die Konkurrenzfähigkeit des nationalen Bildungssystems nicht weniger ins Gewicht als die Exportschwierigkeiten einheimischer Spitzentechnologie, der ›Verlust‹ von Arbeitsplätzen an›Billiglohnländer‹, oder die Leistungsfähigkeit des nationalen Sports. Deutsche Sportlertugenden sind Tugenden jeder nationalen und privatwirtschaftlichen Arbeitsmannschaft: Disziplin, hohe Einsatzbereitschaft und Opfermut: ›durch Kampf zum Spiel‹ – nur ohne Spiel. Angesichts der übergreifenden Abhängigkeiten des Privateigentümer-Individuums vom Konkurrenzerfolg ›seines‹ Unternehmens und ›seines‹ Staats ist dessen Loyalität mit den Agenturen gesellschaftlicher Herrschaft und Ausbeutung nur zu verständlich. Doch was aus der Perspektive des Individuums verständlich erscheint, ist aufs Ganze besehen ein ausgemachter Widerspruch und Unsinn: Einsatz für ein System gesellschaftlicher Herrschaft, gesellschaftliche Selbstentmündigung beim opferreichen Versuch, wenigstens individuell nicht den Kürzeren zu ziehen.
13. ›Steuerungsverlust‹ des Staats in der ›neoliberalen Globalisierung‹?
Die Raben krähen es von den Dächern: Gerade ist die ›Epoche des Neoliberalismus‹ zu Ende gegangen. Kennzeichen dieses angeblich ›angelsächsischen‹ Modells kapitalistischer Regulation soll eine gewissenlose und spekulationsfreudige Profitgier gewesen sein, die sich nicht um gesellschaftliche Werte kümmert, sondern um kurzfristige Gewinne, nicht um soziale oder nationale Verantwortung, sondern um ›shareholder value‹. Ein verbreiteter Vorwurf lautete, die neoliberale Globalisierung‹ habe die ›Steuerungsfähigkeit des Staats‹ untergraben. Und die müsse nun energisch zurückgewonnen werden.
Nun ist nicht von der Hand zu weisen, dass sich die Gestalt des Weltkapitalismus mit der Verwertungskrise der 70er Jahre erheblich gewandelt hatte. Sie beendete eine Epoche massenintegrativer sozialdemokratischer Umverteilungspolitik, die durch eine Strategie kapitalistischer ›Liberalisierung‹ abgelöst wurde. In vielen westlichen Staaten wurden öffentliche Betriebe bzw. Teile der Sozialversicherungssysteme privatisiert, oder nach unternehmerischen Gesichtspunkten umstrukturiert. Ansprüche der Gewerkschaften wurden politisch zurückgedrängt. Gleichzeitig kam es zu einer weitergehenden Integration der kapitalistischen Weltökonomie: staatliche Handels- und Investitionsbarrieren wurden abgebaut, was zur Verschärfung der globalen kapitalistischen Konkurrenz führte. Diese Entwicklung hat mit dem Zusammenbruch des Ostblocks den gesamten Globus erfasst.
Doch es ist irreführend, diesen Prozess und seine Konsequenzen als staatlichen ›Steuerungsverlust‹ zu beklagen. Denn kapitalistische Weltmarktkonkurrenz fällt nicht vom Himmel. Sie war und ist eine Wachstumsstrategie der führenden kapitalistischen Nationalökonomien. Und sie ist alles andere als ›dereguliert‹. Der ›liberalisierte‹ Weltkapitalismus setzt ein umfassendes System zwischenstaatlicher bzw. internationaler Abkommen über den gegenseitigen Kapital- und Warenverkehr voraus, die allgemeinen Bedingungen der Konkurrenz regeln, und mit einzelstaatlichen Sonderkonditionen vermitteln: Zollvereinbarungen, Bilanzierungsregeln, Investitionsabkommen, Beteiligungsmodelle, Arbeitsschutzrichtlinien etc. Und bei deren Verhandlung geben die dominanten kapitalistischen Staaten keinesfalls das Steuer aus der Hand. Denn die globale Produktivitätskonkurrenz und der freie Kapitalverkehr ist die Art und Weise, wie diese Staaten ihr nationalökonomisches Gewicht weltweit zur Geltung bringen und ausbauen können. Die kapitalistischen Industriestaaten entwickelten sich über Generationen und Weltkriege hinweg in einer mehr oder weniger stark globalisierten Verwertung heimischer Kapitale. Deshalb ist die industrielle, kommerzielle und öffentliche Infrastruktur dieser Staaten auf stetiges Wachstum in der nationalen und internationalen Konkurrenz ausgelegt. Gerade Exportweltmeister Deutschland erwirtschaftet auf dem reguliert-deregulierten Weltmarkt einen Gutteil seines nationalen Reichtums, und ist mit erheblichen Einlagen und entsprechenden Stimmrechten in dessen Institutionen vertreten.
Selbstverständlich ist die Klage über Ohnmacht und Steuerungsverlust der Politik in der globalisierten Konkurrenz nicht gegenstandslos. Sie drückt die zutreffende Ahnung aus, dass die Menschen gegenwärtig nicht über ihre gesellschaftlichen Lebensverhältnisse bestimmen, sondern dass es sich eher umgekehrt verhält. Doch die Rede vom Steuerungsverlust ist zugleich Ideologie. Sie verfehlt die wirkliche Rolle des Staats, und zwar aufgrund naheliegender, aber dennoch falscher, eben ideologischer Annahmen über den Kapitalismus als ganzen. Staat und kapitalistische (Weltmarkt-)Konkurrenz werden nicht als Funktionsaspekte einer umfassenden Herrschaftsordnung erkannt. Aufgrund der spezifisch kapitalistischen Spaltung der gesellschaftlichen Reproduktion in eine politische (öffentliche) und eine ökonomische (private) Sphäre erscheinen sie einander bloß äußerlich entgegengesetzt. Die politischen Institutionen des Staats erscheinen als Instrumente einer freien und selbstbewussten gesellschaftlichen Willensbildung, während sich die ›privat‹ verantwortete gesellschaftliche Produktion im Kern der politischen Steuerung entzieht, und sich so insgesamt als unzugängliche Voraussetzung ›des Politischen‹ darstellt. Dieser Schein einer Verselbstständigung ›des Ökonomischen‹ gegenüber ›dem Politischen‹ wird durch die tagtäglich erfahrbare Unberechenbarkeit kapitalistischer Konkurrenz immer wieder bestätigt und verstärkt. Die ›Ökonomie‹ erscheint immer wieder als mehr oder weniger ›naturwüchsige‹ Sphäre der Produktion. In dieser naheliegenden Wahrnehmung werden auch die kapitalistischen Formbestimmungen des Ökonomischen ›naturalisiert‹, d.h. als selbstverständliche Bedingungen von Produktion überhaupt angesehen. Dem gegenüber erscheint der Staat als einzig umfassend handlungsfähige und deshalb fürsorgepflichtige Instanz. Er soll gesellschaftliche Bedürfnisse gegenüber einer ihm scheinbar äußerlichen Ökonomie durchsetzen. Diese Sicht der Dinge legt verschiedene, gleichermaßen falsche Erklärungen der offensichtlichen Härten und ›Ungerechtigkeiten‹ des Kapitalismus nahe. Entweder die Menschen sind Egoisten, und der Staat als Hüter des Gemeinwohls muß sie zügeln und regieren. Oder nur ein paar Menschen sind Egoisten, und verderben eine ansonsten nützliche und sinnvolle gesellschaftliche Konkurrenz. Kritisiert wird dann nur noch die vermeintlich persönliche Gier gewissenloser Kapitalisten und bonushungriger Manager.
In seiner ideologischen Unterbestimmtheit verliert der Vorwurf des Steuerungsverlusts also jeden kritischen Gehalt. Die Ahnung nämlich, dass die Gesellschaft von Staat und Kapital sich unter endlosen Verwertungszwängen tatsächlich gegen die Menschen selbst verselbstständigt hat, die diese Gesellschaft doch tagtäglich selbst hervorbringen. Der Ruf nach staatlicher Steuerung verharmlost die systemischen Zwänge der bürgerlich-kapitalistischen Ordnung. Und er idealisiert das Nachkriegsmodell eines sozialpartnerschaftlich befriedeten Kapitalismus, mit bescheidenem Massenwohlstand und stabilem Wachstum. Der Schein einer steuerbaren, zugleich kapitalistischen und sozialpartnerschaftlichen Menschheitsbeglückung entstand unter der außerökonomischen Wettbewerbsbeschränkung des Kalten Krieges. Diese Epoche des Kapitalismus ließ tatsächlich viele Menschen an dem (von ihnen selbst geschaffenen) gesellschaftlichen Reichtum teilhaben. Aber sie ging, wie es sich für eine widersprüchliche Gesellschaftsordnung gehört, an ihren eigenen Fortschritten zu Grunde. Denn in dieser Phase haben die konkurrierenden Kapitale der westlichen Industriestaaten unter enormen Produktivitätssprüngen große Teile der Produktion automatisiert. Damit haben sie einerseits die Grundlage ihrer noch immer günstigen Konkurrenzposition in hochtechnisierten Branchen geschaffen. Doch gerade durch diese erfolgreiche Rationalisierung haben sie auch die Basis der Massenintegration durch wachstumsstarke industrielle Lohnarbeit selbst untergraben.
Der globale Kapitalismus ist also beides: ein hoch reguliertes, und dennoch im Ganzen nicht steuerbares System gesellschaftlicher Herrschaft. Die industrielle Produktion ist natürlich auch im Kapitalismus extrem planungsintensiv, und der Weltmarkt fußt auf riesigen Vertragswerken. Aber die gesellschaftliche Reproduktion als ganze folgt nicht gesellschaftlich bestimmten Zwecken, sondern der Jagd nach Verwertungschancen im globalen ökonomischen Verdrängungswettbewerb der Unternehmen und Standorte. Eine zuverlässige gesamtwirtschaftliche Steuerung dieses Prozesses scheitert im Kapitalismus nicht etwa an dessen technischer Komplexität. Sie scheitert bereits grundsätzlich an der Unmöglichkeit, den kommerziellen (und damit auch nationalökonomischen) Wert einer privaten Produktion oder Investition vorherzusehen. Denn dieser Wert erweist sich immer erst ›nachträglich‹, wenn am (Welt-)Markt und in den nationalen Wirtschaftsstatistiken die Resultate der globalisierten privaten Produktivitätskonkurrenz verglichen werden – wenn also Wettbewerber und nationalökonomische Entwicklungsstrategien reihenweise durchfallen, obwohl alle ihr Bestes gegeben haben. Deshalb ist der kapitalistische Zwang zu maximaler Produktivität und Rentabilität in letzter Instanz ein unpersönlicher Zwang, selbst wenn er von konkreten Kapitalisten organisiert und von konkreten Lohnabhängigen fleißig umgesetzt wird. Marx spricht deshalb von »Charaktermasken« als »Personifikationen der ökonomischen Verhältnisse«. Er ist ein Zwang, der sich durch die Konkurrenz der Menschen und Nationalökonomien hindurch gegen die Menschen verselbstständigt. Er lässt sich nicht steuern, sondern nur am Stück abschaffen.
5 Karl Marx, Das Kapital, Bd. I (1867). In: MEW 23, 765f.
6 Karl Marx, Das Kapital, Bd. I (1867). In: MEW 23, S. 779.
7 Friedrich Engels, Herrn Eugen Dührings Umwälzung der Wissenschaft (1877/78). In: Marx-Engels-Werke 20, S. 260.
8 Zur Integration des europäischen Währungs- und Wirtschaftsraums siehe Kapitel 12 und 18.