6. Gewalt und Konkurrenz – Der bürgerliche Staat und seine politischen Existenzbedingungen
Ein überparteiliches Gewaltmonopol, die Gleichheit der Bürger vor dem Gesetz und der Schutz ihres Privateigentums sind wesentliche Voraussetzungen kapitalistischer Konkurrenz. Ohne diese staatlich garantierten außerökonomischen Bedingungen kann sich kein kapitalistischer Akkumulationsprozess entwickeln und erhalten. Dagegen sind ausgeprägte demokratische ›Freiheitsrechte‹ für ein gedeihliches kapitalistisches Wachstum streng genommen überflüssig, und in Konfliktfällen direkt hinderlich – weshalb sie in vielen kapitalistischen Staaten zwischenzeitlich abgeschafft wurden, um die ›sozialistische Gefahr‹ zu bannen. Dagegen bilden Gewaltmonopol, Rechtsgleichheit, Vertragsfreiheit und Privateigentum als unverzichtbare Voraussetzungen des Kapitalismus so etwas wie dessen grundlegende Form, den Kern seiner gesellschaftlichen Formbestimmungen. Von Form oder Formbestimmung kann gesprochen werden, weil diese Elemente in jeder kapitalistischen Gesellschaft notwendig anzutreffen sind. Im alltäglichen Geschäftsgang erscheinen sie als völlig selbstverständliche Bedingungen des gesellschaftlichen Verkehrs. Sie werden nicht einmal mehr als besondere soziale Arrangements wahrgenommen. Geschäftspartner gehen beispielsweise ohne weiteres davon aus, dass gegenseitige Verträge ›gelten‹, also von beiden Seiten als verbindlich betrachtet werden. Denn sie wissen, dass dies im Konfliktfall von einem staatlichen Gericht festgestellt werden kann, und dass der Staat ihr Recht mit seinen Gewaltmitteln durchsetzen wird. Sie verlassen sich also auf das staatliche Gewaltmonopol, die Gleichheit vor dem Gesetz und den Schutz des Privateigentums. Deren soziale Wirkungen sind so grundlegend, dass sie im Alltagsbewusstsein als Ausdruck der menschlichen Natur aufgefasst werden.
Im Rahmen dieser staatlichen garantierten Formbestimmungen entwickelt sich das Kapitalverhältnis als umfassendes System gesellschaftlicher Abhängigkeiten. Das gilt für die ökonomischen Beziehungen der Bürger eines Staats, wie für dessen eigenes nationalökonomisches Schicksal als Standort einer globalisierten Kapitalverwertung. Die Rahmenbedingungen dieser kapitalistischen Globalisierung werden zwar periodisch unter Staaten neu verhandelt. Doch jeder anerkannte Souverän kann sich hier nur entsprechend seinem eigenen ökonomischen Gewicht und seinem davon abhängigen Potenzial direkter militärischer Gewaltausübung einbringen – bleibt also jederzeit zu nationalökonomischem Egoismus gezwungen. Politische ›Spielräume‹ werden so durch den allgemeinen Verwertungszwang und dessen besondere Konjunkturverläufe definiert, die politisch eben nicht beliebig gestaltbar sind. Das Interesse des bürgerlich-kapitalistischen Staats an sich selbst lässt nur unterschiedlich gewalttätige Formen gesellschaftlicher Reproduktion zu. Dabei haben sich die Wachstums- und Krisentendenzen der Weltmarktkonkurrenz bisher als bezwingender erwiesen als Gewaltmonopol und politische Willkür.
Auch sonst ist der Spielraum des Politischen im bürgerlichen Staat wesentlich geprägt durch die konstitutiven Voraussetzungen der kapitalistischen Produktionsweise und die übergreifenden Konjunkturen der ökonomischen Konkurrenz. staatliche Garantie des Privateigentums bedeutet eben auch, dass über die Steuerung der gesellschaftlichen Produktion nicht politisch entschieden wird. Damit ist die materielle Grundlage des gesellschaftlichen Lebens – also die Frage, welchen Reichtum die Gesellschaft wie, d.h. für wen produziert – gerade kein Gegenstand politischer Willensbildung.
Das sind die Voraussetzungen des Politischen im bürgerlichen Staat. Sie bedeuten aber nicht, dass Politik unmittelbar durch ökonomische Verhältnisse bestimmt wäre. Schon weil niemals sicher ist, was im weltweiten Hauen und Stechen der nationalökonomien die erfolgversprechendste Strategie des Staats ist, lassen sich Auseinandersetzungen um dessen ›best practice‹ niemals stillstellen. Ordnungspolitische Modelle und Steuerformeln basieren im Kapitalismus immer auch auf Konjunkturprognosen – und die werden durch die prinzipiell unvorhersehbaren Umbrüche und Krisen des privateigentümlichen Verwertungsprozesses immer wieder durchgestrichen. Die Art und Weise, wie auf solche Konjunkturschwankungen reagiert wird, ist Gegenstand sozialer Kämpfe. Das klingt rebellisch bis revolutionär, ist es aber selten genug. Denn auch soziale Kämpfe sind zunächst unmittelbar durch die staatlich garantierten Rahmenbedingungen der bürgerlich-kapitalistischen Vergesellschaftung geprägt. Ihre Hauptakteure – etwa Gewerkschaften und Unternehmerverbände – vertreten zunächst und zumeist Interessenstandpunkte, wie sie innerhalb der Logik des institutionell beaufsichtigten Verwertungsprozesses entstehen: Kämpfe um Anteile am Reichtum der Gesellschaft, nicht um die Art und Weise, d.h. die soziale (bzw. asoziale, nämlich private) Form, in der dieser Reichtum produziert und zugleich angeeignet wird. Auch unterschiedliche Branchen der kapitalistischen Nationalökonomie verfolgen aus ihrer ökonomischen Struktur heraus unterschiedliche und teils entgegengesetzte politische Ziele. Doch zur Debatte steht dabei nur, wie – nicht ob – den kapitalistischen Sachzwängen entsprochen wird. Daher beschränken sich soziale Kämpfe allzu oft auf den Versuch, ein paar staatliche Garantien zu verteidigen, bei Lohnerhöhungen wenigstens die Inflationsverluste auszugleichen, und die Steuern und Krankenkassenbeiträge so niedrig wie möglich zu halten. Eine sozialstaatliche, d.h. nachträgliche Umverteilung von oben nach unten ist ohne ein günstiges kapitalistisches ›Wachstumsklima‹ nicht zu haben. Und für tatsächlich systemgefährdende Forderungen finden sich kaum politischen Bündnispartner.
Die Grenzen des Politischen liegen demnach bereits in seiner kapitalistischen Formbestimmtheit. Aussicht auf staatspolitischen Erfolg haben nur Kampagnen, die diese Grenzen respektieren – die also Mitmachen beim Ausgleich und bei der produktiven Verwaltung konkurrierender Interessenstandpunkte innerhalb der kapitalistischen Nationalökonomie. Eine Politik ums Ganze muss deshalb immer zugleich Antipolitik sein: der Versuch, die konstitutiven Beschränkungen und Vorentscheidungen der politischen Form aufzubrechen. Doch die institutionellen Arrangements der bürgerlichen Gesellschaft verhindern dies bisher effektiv. So reduziert beispielsweise das System parlamentarischer Repräsentation die ohnehin begrenzte politische Steuerung des Gesellschaftsprozesses auf ein einmaliges und indirektes Votum – ein Votum nicht über gesellschaftliche Sachfragen, sondern für Parteien, die ihre Steuerungs- und Umverteilungsmodelle immer nur im Paket anbieten, und die nach der Wahl faktisch nicht mehr zur Rechenschaft gezogen werden können. Die institutionelle Beschränkung politischer Mitbestimmung sichert auf diese Weise eine möglichst reibungsarme Vermittlung der bürgerlich-kapitalistischen Herrschaftsordnung – und damit den Bestand des Staats.
Dass ein paar gefälschte Beweismittel den Ausschlag zwischen Krieg und Frieden geben können, dokumentiert wohl einerseits die enormen Gestaltungsmöglichkeiten des Politischen. Es illustriert aber gleichzeitig, wie gut sich der jeweilige Staat bereits aufs Kriegführen vorbereitet hat, wie sehr also der militärische Ausnahmezustand zum politischen Regelfall zählt.
Zwischen Protektionismus und Globalisierung kann kein einzelner staatlicher Souverän einfach so wählen. Jedenfalls nicht ohne die nationalökonomische Grundlage seiner Staatlichkeit zu gefährden. Politik kann den Druck der nationalen und internationalen Konkurrenz unterschiedlich verteilen, und dabei die Lebenschancen von Millionen Menschen fördern oder durchstreichen. Dass dies in ihrer Macht liegt, ist ein guter Grund Politik zu machen. Es ist aber vor allem ein guter Grund, das Politische in seiner bürgerlichen Formbestimmtheit, d.h. Beschränktheit abzuschaffen, und die gesellschaftlichen Verhältnisse selbst in die Hand zu nehmen.