Asyl: Das Problem heißt Kapitalismus

Asyl: Das Problem heißt Kapitalismus

hier den Text als pdf lesen

Anlässlich der Debatte um die Initiative der Stadt Leipzig, Asylsuchende zukünftig dezentral unterzubringen möchte man mit dem Wissen um die unvernünftig eingerichteten gesellschaftlichen Verhältnisse eigentlich nicht mehr fassungslos und schockiert sein – und ist es trotzdem.

Nach einem Stadtratsbeschluss von 2010 sollen in Leipzig sieben kleinere Unterbringungen für Asylsuchende die bisherigen zwei maroden und menschenunwürdigen Massenunterkünfte ablösen. Das diese neuen Unterkünfte anders als vorher auch in Wohngebieten entstehen sollen, war besonders in den Stadtteilen Wahren und Grünau Anlass für rassistische Protestkundgebungen. Die Reaktionen der Leipziger BürgerInnen auf das neue Konzept sind erschreckend und zeigen zugleich die ideologische Verfasstheit der deutschen Mehrheitsgesellschaft in Zeiten des vermeintlich unverkrampften Patriotismus und des neuen sich aufgeklärt und weltoffen wähnenden Selbstverständnisses der Bundesrepublik .

Dort, wo die Aufnahme von Menschen, denen in den Ländern aus denen sie flüchteten, politische, religiöse, geschlechtsspezifische oder ethnizistische Unterdrückung widerfuhr, praktisch werden soll, treten Ängste als Ausdruck von Ressentiments auf, die nicht anders als rassistisch zu bezeichnen sind. Formuliert man jedoch genau dies, fühlen sich die meisten LeipzigerInnen, die jetzt protestieren, vor den Kopf gestoßen. Denn in ihrem Selbstverständnis als Teil der demokratischen Mitte kann Rassismus nur als Problem neonazistischer ExtremistInnen, nicht jedoch als eigenes verinnerlichtes Ressentiment gedacht werden. Und das antiquierte Bild des biologistischen Rassismus verschleiert den Blick darauf, dass rassistische Diskriminierung heutzutage in der Regel als kulturalistisch daherkommt, indem Menschen als AnhängerInnen bestimmter Kulturkreise klassifiziert und bestimmte Eigenschaften als ihnen eigen festgeschrieben werden.

Die Stadt Leipzig versuchte nun anlässlich der Proteste mit Diskussionsveranstaltungen in den Stadtteilen, in denen die neuen Unterkünfte entstehen sollen, die vermeintlichen Sorgen der „Betroffenen“ ernst zu nehmen und auszuräumen. Dabei spotten die formulierten Sorgen dem Bild einer sich als aufgeklärt und gebildet verstehenden bürgerlichen Mittelschicht und könnten irrationaler nicht sein. So ist von einem Anstieg von Beschaffungs- und Drogenkriminalität die Rede, von Angst um Kinder und Frauen, denn schließlich würden vornehmlich junge, ausländische Männer einquartiert, von der Befürchtung, der soziale Friede sei nicht mehr gewährleistet – und schließlich und letztendlich lammehrlich spricht man davon, dass „die“ eben einfach nicht in ein Wohngebiet passen würden. Warum das Befürchtete eintreten sollte, bleibt im Dunkeln.

Mit dem Versuch, durch Diskussionsveranstaltungen diese irrationalen Ängste mit Argumenten zu widerlegen, scheint Sozialbürgermeister Thomas Fabian einer schieren Resistenz der Leipziger Wutbürger gegen jegliches rationales Argument gegenüberzutreten. Denn wo die rassistisch-ideologischen Ängste sich einer rationalen und empirischen Grundlage entziehen, werden sie weiterhin bestehen, auch wenn man den Verängstigten die ihren Vorstellungen entgegengesetzte Wirklichkeit unter die Nase reibt.

Hier zeigt sich ein grundlegendes Dilemma einer linksradikalen Positionierung zu diesem Thema. Natürlich ist es richtig zu versuchen, die verhärteten Ideologien durch Aufklärung aufzubrechen. Und natürlich kann dies in Einzelfällen gelingen. Im besten Fall kann dadurch eine ganz konkrete Verbesserung der Lebensbedingungen von Asylsuchenden in Leipzig erreicht werden, wenn nämlich das Konzept der Dezentralisierung tatsächlich Realität wird. Die gesellschaftlichen Ursachen jedoch, die Ideologien wie Rassismus hervorbringen, bleiben von solcher Anstrengung unberührtund damit auch das Problem des rassistischen Mobs, der bei der nächsten Gelegenheit wieder protestiert oder genauso gut eine Gefahr für dezentral untergebrachte Asylsuchende darstellen kann.

In diesem Spannungsfeld befinden sich auch Initiativen, die über das Konzept der Stadt Leipzig hinausgehen und eine komplett dezentralisierte Unterbringung für Asylsuchende fordern, also die Abkehr von Gemeinschaftsunterkünften. Diese Forderung ist schon deswegen vollkommen berechtigt, weil sie die konkreten Leidenserfahrungen der Betroffenen mildern und ihre Lebensbedingungen erheblich verbessern könnte. Doch bleibt sie – ähnlich wie die abstrakt bleibende Forderung nach „no border, no nation“ – trotzdem ohnmächtig im Angesicht der Verhältnisse, die Tag für Tag die Bedingungen reproduzieren, die Krieg, Diskriminierung und Vertreibung auf der einen Seite und staatliche Grenzkontrollen, Migrationspolitik und Rassismus auf der anderen Seite überhaupt erst möglich machen. Demgegenüber stellt eine linksradikale Perspektive die Möglichkeit dar, sich mit der Kritik an diesen Ursachen für ihre Abschaffung zu positionieren und gleichzeitig für die tagespolitische Linderung menschlichen Leids einzustehen.

Rassismus als ideologisches Phänomen des Kapitalismus

Um das Auftreten rassistischer Proteste verstehen zu können, ist es wichtig, sie nicht als Ausdruck individueller Dummheit oder fehlender moralischer Vorstellungen zu deuten, sondern ihre Ursachen in der Wechselwirkung von kapitalistischen Verhältnissen und den in ihr vergesellschafteten Individuen zu sehen.

Die gesellschaftlichen Subjekte sehen sich in ihrem Leben ständigem Zwang ausgesetzt. Menschen müssen ihre Arbeitskraft verkaufen um am gesellschaftlichen Leben teilnehmen zu können. Sie müssen Erwartungen im Berufsleben entsprechen, sich flexibel, leistungsfähig, anpassungsbereit und gleichzeitig individuell und einzigartig darstellen, um in der ständigen Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt und im Arbeitsleben nicht als Verlierer zu enden. Dies gilt gleichermaßen für ArbeitnehmerInnen wie ArbeitgeberInnen. Auch müssen sie durch das Bewusstsein, das den gesellschaftlichen Verhältnissen entspringt, sozialen Vorstellungen über ihr Privatleben Rechnung tragen. Sie können es nicht frei nach ihren Bedürfnissen gestalten, sondern müssen unter Zwang ihr Sexualleben, ihre Vorstellung von Schönheit, die Einrichtung ihrer Wohnverhältnisse, das Ausleben ihrer Interessen und vieles mehr mit einer Vorstellung von Normalität abgleichen. Fallen sie aus dieser Vorstellung hinaus, droht ihnen der Missmut anderer Menschen und im schlimmsten Fall Diskriminierung und Verfolgung.

Natürlich lassen sich einige Diskriminierungsmuster wie Sexismus oder Homophobie auch in vorkapitalistischen Gesellschaften nachweisen. Und auch rassistische Phänomene sind bereits im 15. Jahrhundert historisch bewiesen. In der Totalität des Kapitalismus bekommen diese Phänomene jedoch eine neue Funktion und können deshalb nicht als Erscheinungen verstanden werden, die dem Kapitalismus äußerlich sind.

Die Zwänge, denen die Individuen tagtäglich ausgesetzt sind, können unter Rückgriff auf Sigmund Freud als Ursachen rassistischer Denkmuster erklärt werden. Durch den sozialen Druck, aufgrund dessen sich jeder ständig selbst negieren und seine eigenen Bedürfnisse unterdrücken muss, treten Beschädigungen auf, die das eigene Selbstbild empfindlich stören. Um jedoch trotzdem als Individuen bestehen zu können und sich die zugefügten Beschädigungen nicht vergegenwärtigen zu müssen, um also überhaupt ein relativ erträgliches Leben führen zu können, suchen die Individuen nach legitimierenden Grundlagen und finden sie unter anderem im gesellschaftlichen Konstrukt von Nation und Rasse. In vermeintlichen Schicksalsgemeinschaften also, in denen sich die Individuen nicht mehr als konkurrierende Subjekte im kapitalistischen Verwertungszusammenhang gegenüberstehen, sondern sich einbilden können, dass sie in partnerschaftlicher Eintracht zusammen stehen.

Dieses Auflösen des Individuums im Kollektiv hebt scheinbar auch einen weiteren Widerspruch kapitalistischer Vergesellschaftung auf. Denn die Subjekte sollen sich im Kapitalismus als Warentauschende aufeinander beziehen und werden deshalb vom bürgerlichen Staat mit Rechten ausgestattet, die sie als frei und gleich definieren. Die Individuen werden mit diesen Rechten einer abstrakten Gleichheit zugeführt, die sie als Subjekte definiert, die ihre Arbeitskraft zu Markte tragen müssen und mit einer Freiheit ausgestattet, die es ihnen ermöglicht freie Rechtsbeziehungen einzugehen. Mit diesen Rechten wird ihnen also einerseits die Bedingung gegeben, als konkurrierende PrivateigentümerInnen (Bourgois) gegeneinander Einzelinteressen zu verfolgen. Gleichzeitig sollen sie sich als StaatsbürgerInnen (Cityoen) mit den Gemeininteressen der Nation identifizieren und mit ihren MitbürgerInnen gemeinsam den Staat gestalten.

Auch dieser Widerspruch zwischen Bourgois und Citoyen, der ständig die Gegensätzlichkeit von individuellen Bedürfnissen und allgemeinen Anforderungen im Individuum hervorbringt, wird im ideologischen Konstrukt von Nation, Rasse und Kultur scheinbar aufgehoben.

Da sich aber die Konstruktion einer Eigengruppe nur vollziehen kann, indem sie durch wie auch immer geartete Eigenschaften von anderen Gruppen abgegrenzt wird, ist die Benennung des Anderen, Fremden und Verschiedenen schon mit der Identifikation mit einem Kollektiv bedingt. Auf die somit entstandene Fremdgruppe können dann rassistische und kulturalistische Projektionen geworfen werden.

Auch hier entspringen die Projektionen, die sich in Ressentiments formulieren, den gesellschaftlichen Verhältnissen. Die Eigenschaften, die auf die Fremdgruppe geworfen werden, entsprechen den Entsagungen und Ängsten, die durch die Verhältnisse produziert werden und die das Individuum ins Unbewusste schiebt. So werden zum Beispiele jene, die als MigranteInnen identifiziert werden, als faul und sexuell umtriebig diffamiert und damit gleichsam der eigene Unmut über die tägliche Plackerei und die durch soziale Normen unterdrückten sexuellen Triebe ausgedrückt. Im gleichen Moment zeichnet die Diffamierung des Abweichenden als minderwertig die eigene Angst nach, selbst einmal im kapitalistischen Wettbewerb den Anforderungen nicht zu entsprechen und sich deshalb außerhalb des konstruierten Kollektivs zu sehen.

Gleichwohl tritt ein weiteres Moment hinzu: In der Herabsetzung der Fremdgruppe wertet der Rassismus die Eigengruppe auf und trägt somit dazu bei, das beschädigte Selbstbewusstsein im kollektiven Narzissmus zu ertränken.
Indem also Asylsuchenden in immer gleicher Manier unterstellt wird, sie würden aufgrund ihres Wesens den grundsätzlichen Normen und Ansprüchen der (deutschen) Gesellschaft bewusst nicht entsprechen oder seien ihnen nicht gewachsen, reduzieren die Rassisten die von ihnen Herabgesetzten auf ihre „erste Natur“, also auf ihre grundsätzlichen menschlichen Bedürfnisse. In diesem Mechanismus offenbart sich aber das Spannungsfeld in dem auch die Rassisten stehen, wenn sie ihre Bedürfnisse aufgrund der bestehenden Verhältnisse unterdrücken müssen, nämlich die Negierung ihrer ersten Natur zu Gunsten ihrer zweiten .

Besonders in Krisenzeiten, in Zeiten also, in denen die Individuen immer größeren Spannungen aufgrund gesellschaftlicher Missverhältnisse ausgesetzt sind, tritt diese Reduktion ganz offen zu Tage. So zum Beispiel in Thilo Sarazzins Thesen, in denen er eine Überfremdung Deutschlands durch Menschen herbeikonstruiert, die für die deutsche Volkswirtschaft nur schädlich sein können oder im allseits beliebten Bashing der griechischen Bevölkerung, die im Stammtisch-Sprech schlicht und ergreifend zu faul und unfähig sei, ihre eigenen Probleme zu bewältigen.

Grenzkontrollen und Migrationspolitik als Faktor nationalstaatlicher Kapitalverwaltung

Wie schon erwähnt gewährt der bürgerliche Staat seinen BürgerInnen die Grundlage für einen Warenaustausch unter Freien und Gleichen. Er tritt so als „Agent“ der verschiedenen WarenbesitzerInneninnerhalb seiner Grenzen auf.

Die nationalstaatliche Ökonomie ist demnach Ausdruck der verschiedenen größeren oder kleineren Privatinteressen zur Akkumulierung von Kapital. Gleichzeitig ist der Staat in einer Position, die den sozialen Frieden mit wohlfahrtsstaatlichen Leistungen an die von ihm verwalteten Menschen bewahren und somit den bestehenden Widerspruch zwischen Kapital und Arbeit zumindest teilweise verschleiern will. Somit tritt der bürgerliche Staat selbst als einer auf, der dem ständigen Zwang zur Verwertung des Werts entsprechen muss. Denn er steht in ständiger Konkurrenz zu anderen kapitalistischen Staaten weltweit, die ebenfalls Vertreter ihrer nationalen Gesamtökonomien sind. Gewährleistet er in dieser Konkurrenz gute Bedingungen zur Akkumulierung von Kapital innerhalb seiner Grenzen, betreibt er also eine gewinnbringende Standortpolitik, so ist es wahrscheinlich, dass auch ihm durch Besteuerung ein Teil des gesellschaftlich produzierten Reichtums in Form einer Geldmenge zugeführt wird. Diese Geldmenge kann wiederum genutzt werden, um weiterhin gute Grundlagen für den nationalen Wirtschaftsstandort zu bereiten und andererseits die Möglichkeit gewähren, weitere Zugeständnisse an Sozialleistungen zu erbringen.

Mit diesem grundlegenden Verständnis über die Notwendigkeit eines bürgerlichen Staates zur Erhaltung kapitalistischer Produktionsverhältnisse lassen sich nun auch Grenzkontrollen und Migrationspolitik als Faktor nationalstaatlicher Kapitalverwaltung betrachten. Zur Schaffung möglichst guter Bedingung für die Akkumulation von Kapital gehört nämlich vor allem die Inwertsetzung von humanem Kapital innerhalb der Nation. Die Menschen müssen ihre Arbeitskraft unter möglichst guten Voraussetzungen zu Markte tragen können, dabei aber auch entsprechende Qualifikationen entwickeln, die den Anforderungen der entwickelten Produktivkräfte und des technischen Know-Hows genügen. Tritt der Fall auf, dass durch fehlerhafte Politik zu wenig entsprechendes Humankapital für die nationale Wirtschaft zu Verfügung steht, hat der Staat das Privileg, Arbeitskräfte aus anderen Staaten anzuwerben.

Das geschah in der Bundesrepublik vor allem in den 60er und 70er Jahren, als Menschen süd- und südosteuropäischer Herkunft angeworben wurden. Um die Jahrtausendwende warb man vor allem um InformatikerInnen aus Indien. Hier zeigt sich das grundlegende Kriterium von nationalstaatlicher Migrationspolitik: Eingewanderte Menschen sollen vor allem als ökonomischer Faktor den Wirtschaftsstandort Deutschland aufwerten.
Dies schlägt sich beispielsweise auch in Gesetzen wie dem neuen Ausländergesetz von 2011 nieder, nachdem schulpflichtige Kinder von EinwandererInnen gute Noten nachweisen müssen, damit sich ihre Eltern dauerhaft in Deutschland aufhalten können. Einerseits verdeutlicht sich hier die immer weitergehende Optimierung der verwalteten Menschen für den Produktionsprozess, andererseits zeichnet sich aber auch die oben erwähnte rassistische Projektion ab, die die Zugewanderten, vor allem aus dem globalen Süden, auf ihre erste Natur reduziert und für den kapitalistischen Produktionsprozess als prinzipiell weniger geeignet ansieht als Menschen aus dem globalen Nordwesten. In dieser Reduktion schreibt sich gleichsam das Absprechen der vom bürgerlichen Staat gewährten Gleichheit der Subjekte seit dem Kolonialismus fort. Denn statt den Zugewanderten uneingeschränkt die bürgerlichen Rechte zu gewähren, verdreht der Staat jene Rechte zu Pflichten. Das Recht auf Bildung wird zu einer Pflicht auf Bestleistung, deren Erbringung von der eingeborenen Bevölkerung so nicht erwartet wird. Oder es wird mit sogenannten Einbürgerungstests, die wohl ein großer Teil der sich als deutsch Verstehenden niemals bestehen würde, Zugewanderten beständig die Beweislast für einwandfreie Integrationsbedingungen zugeschoben.

Es lassen sich hier durchaus ideologisch-rassistische Elemente staatlicher Politik erkennen. Sowohl bei PolitikerInnen als auch bei ihrem Wahlvolk sind Vorstellungen von einem biologistisch oder kulturalistisch konstruierten „Staatsvolk“ vorhanden, dem gegenüber „Fremde“ als Bedrohung erscheinen müssen. Nur in dieser Entgegensetzung wird das Staatsvolk real. Solche Vorstellungen sind der ökonomischen Rationalität des Staates als ideellem Gesamtkapitalisten nicht entgegengesetzt, sondern unterstützen sie.

Je nach Konjunktur ist es für Staat und Kapital in unterschiedlichem Maße vorteilhaft, EinwandererInnen anzuziehen oder abzuwehren. Einerseits hat das Gesamtkapital ein Interesse daran, eine „industrielle Reservearmee“ zu unterhalten, die Druck auf die Beschäftigten ausübt und die Löhne niedrig hält.

Andererseits will der Staat seine Sozialleistungen so niedrig wie möglich halten, um den „Standort“ für das Kapital attraktiv zu halten (niedrige Steuern, ausreichende Infrastrukturausgaben usw.). Praktisch will der Staat deshalb sehr genau auswählen, wer auf seinem Territorium lebt: Es sollen Menschen sein, die vor allem der Kapitalverwertung nützen, was zu unterschiedlichen Zeiten unterschiedliche Menschen sein können – das mussten „Gastarbeiter“ schmerzhaft erfahren, als in den 80er Jahren begonnen wurde, sie in ihre Herkunftsländer „zurückzuführen“.

All diese Faktoren machen aus Sicht des Staates eine restriktive Grenzpolitik notwendig, die eine strikte Trennung von ökonomisch verwertbaren und unverwertbaren Menschen vorsieht. Die grausamen Folgen dieser Politik sind vor allem an den südlichen Außengrenzen der Europäischen Union erkennbar, wo jährlich Tausende von Menschen beim Versuch ins europäische Wirtschaftsgebiet einzureisen sterben oder getötet werden. Nicht nur, dass Flüchtlinge, die auf dem Versuch das Mittelmeer mit kleinen Booten zu durchqueren, verdursten, verhungern oder ertrinken. Bereits mehrmals wurde bekannt, dass die europäische Grenzschutzagentur Frontex bewusst Flüchtlinge auf hoher See zurückschickte, in Seenot geratene Boote nicht rettete oder sogar das Feuer auf Flüchtlinge eröffnete.

Die Abwehr dieser Wirtschaftsflüchtlinge scheint für viele ein legitimes Mittel zu sein, um den Interessen der nationalstaatlichen Kapitalverwaltung zu entsprechen. Jedoch unterscheidet der bürgerliche Staat immer noch zwischen diesen Wirtschaftsflüchtlingen, denen in bester rassistischer Tradition, wenn auch nunmehr unter dem Aspekt ökonomischer Rationalität, die Einreise verwehrt wird, und Asylsuchenden, die aufgrund von Kriegen oder politischer, religiöser, geschlechtsspezifischer oder ethnizistischer Verfolgung in ihren Heimatländern die Einreise nach z.B. Deutschland erbitten. Hier stellt sich in deutlicher Weise die Charakteristik der Gründe für die Asylgesetzgebung heraus. Denn obwohl sowohl Wirtschaftsflüchtlinge als auch „wirkliche“ Asylsuchende fliehen, weil für sie die Lebensrealität in den Heimatländern zur Unerträglichkeit geworden ist, enthält nur die Aufnahme politischerFlüchtlinge die Möglichkeit, die demokratisch-kapitalistischen Länder in Gegensatz zu stellen zu diktatorischen Regimes oder jenen, die hinter die Gewährleistung der bürgerlichen Rechte zurückfallen.

Die Gewährung des Asylrechts für politische Flüchtlinge bietet somit die Möglichkeit, die eigenen gesellschaftlichen Verhältnisse zu legitimieren und sie als frei von Unterdrückung und Zwangsverhältnissen darzustellen.
Ganz davon abgesehen, dass auch die Ursachen von politischer Flucht meist ihre Wurzeln in kapitalistischen Verhältnissen schlagen, bieten Wirtschaftsflüchtlinge eben nicht jene legitimierende Grundlage für bürgerliche Staaten, da sie offensichtlich aufgrund der Missverhältnisse fliehen, die der Kapitalismus unmittelbar produziert. Eben jenem Produktionsverhältnis also, zu dessen Verteidigung sich der bürgerliche Staat verpflichtet sieht.
Dieser ideologische Gehalt der Asylgesetzgebung vergegenwärtigt sich in der tatsächlichen Praxis staatlicher Asylpolitik. Denn was nach dem „Asylkompromiss“ von 1993 von der wirklichen Möglichkeit übrigblieb, in Deutschland als politischer Flüchtling anerkannt zu werden, wird überschattet von Residenzpflicht, Sozialleistungen, die nur der Hälfte der Mindestversorgung von InländerInnen entsprechen, menschenunwürdigen Wohnverhältnissen und der letztendlichen Abschiebung vieler Asylsuchenden in ihre Ursprungsländer. Noch dazu wird AsylbewerberInnen die Möglichkeit erschwert, sich durch eine Partizipation am Arbeitsmarkt, ihrer sowieso schon prekären Lebenslage entgegenzuwirken. Denn eine Arbeitsgenehmigung wird erst nach einer einjährigen Wartezeit gewährt und immer noch werden, gesetzlich legitimiert, bei gleicher Qualifikation deutsche Staatsangehörige bevorzugt.
Als 2009 die Europäische Kommission plante, die Asylpolitik der EU Staaten zu standardisieren, waren es nicht umsonst deutsche Abgeordnete, die dagegen in bester „Das Boot ist voll“-Rhetorik protestieren. Denn die Änderungen umfassten eine komplette Gleichstellung der sozialen Versorgung der Flüchtlinge mit Menschen deutscher Staatsangehörigkeit und die Möglichkeit, die Drittstaatenregelung des „Asylkompromisses“ teilweise außer Kraft zu setzen. Die Beendigung dieser Ungleichbehandlungen scheint dem deutschen Staat allerdings eine Katastrophe zu sein. Denn selbst unter Wahrnehmung seiner Asylpolitik versucht er nur diejenigen aufzunehmen, die unbedingt und ganz offensichtlich als Flüchtlinge anzuerkennen sind. Dem großen Rest verwehrt er grundlegende soziale Absicherung und einen Mindeststandart an Lebensqualität, der für die deutsche Mehrheitsgesellschaft nichts anderes als selbstverständlich ist.

***

Was von der Erkenntnis des ideologischen Gehaltes von Rassismus und Asylpolitik einerseits und der Funktionsweise von Migrationspolitik innerhalb kapitalistischer Verwertungslogik andererseits bleibt, wäre die Forderung der Abschaffung der gesellschaftlichen Zustände, die beides bedingen.

Für eine Gesellschaft also einzustehen, deren Gehalt die vernünftige Kooperation von autonomen Individuen wäre – in der also die Befriedigung individueller Bedürfnisse nicht mehr verhindert würde durch gesellschaftliche Zwänge – und in der die Produktion des gesellschaftlichen Reichtums für die Befriedigung menschlicher Bedürfnisse geschieht, nicht zur Erzielung von Profit.

Die Abschaffung des Kapitalismus steht jedoch nicht auf der Tagesordnung linksradikaler Praxis und kann deshalb keine Handlungsalternative im tagespolitischen Umgang mit regressiver Asylpolitik und menschenverachtenden Ideologien sein. Die Erkenntnis über kapitalistische Vergesellschaftung muss jedoch analytischer Hintergrund einer linksradikalen Intervention sein. Sie kann unbewusst-ideologische Reflexe durch die Kritik ihrer Ursprünge und Funktionsweisen den Individuen bewusst machen und somit die Möglichkeit geben, ihre Wirkmächtigkeit rational zu brechen. Und sie kann den ideologischen Gehalt der Asylpolitik anhand der wirklichen Verhältnisse überprüfen und die bestehenden Widersprüche aufzeigen. Die Abschaffung des sogenannten Asylkompromisses von 1993 wäre nur eine Forderung, die aus einer solchen linksradikalen Kritik entwachsen könnte.

Den Text als druckfähige PDF: Hier.

Dieser Beitrag wurde unter Archiv, Feature veröffentlicht. Setze ein Lesezeichen auf den Permalink.