Aufruf der antifa nt und des Antifa AK Cologne (organisiert bei UG) zum Aktionstag am 20. Januar 2015 in München (Vor dem Oberlandesgericht in der Nymphenburger Str.)
- Antifaschistische Kundgebung: 9:00 Uhr
- Im Anschluss Demonstration: 17:30
Kein Schlussstrich
Gemeinsam gegen Rassismus
Solidarität mit der Keupstrasse
Am 9. Juni 2004 zündete der Nationalsozialistische Untergrund (NSU) eine mit 700 Nägeln gefüllte Bombe in der Keupstraße in Köln-Mühlheim. Zuvor hatten sie die Bombe, an einem Fahrrad befestigt, vor einem türkischen Friseursalon abgestellt. Alleiniges Ziel des Anschlags war es, möglichst viele (vermeintlich) nicht-deutsche Menschen zu ermorden und Terror zu verbreiten. Die Keupstraße war nicht zufällig Ort des Anschlags. Hier leben viele Menschen, die selbst oder deren Eltern- und Großeltern als Migrant_innen nach Deutschland gekommen sind. Nur durch glückliche Zufälle überlebten alle teils schwer verletzten Opfer des Anschlags. Der Terror gegen sie bestand aber nicht allein in der Bombenexplosion: Die Wirkungen, die diese entfaltete wirkten und wirken noch lange nach. Denn anstatt Solidarität und Anteilnahme erfuhren die Opfer und Betroffenen Ausgrenzung und waren jahrelang falschen Verdächtigungen und Verleumdungen ausgesetzt.
Unmittelbar nach der Tat startete die Kölner Polizei Hausdurchsuchungen in der direkten Nachbarschaft. Schon am Tag nach dem Anschlag erklärte der damalige Bundesinnenminister Otto Schily, es handle sich nicht um einen terroristischen Anschlag. Die Möglichkeit eines Terroranschlags von Nazis wurde, trotz Hinweisen von Zeug_innen und Anwohner_innen, nicht ernst genommen. Verdächtigt wurden nun „türkische Mafiastrukturen“. Aus Opfern wurden plötzlich Verdächtige und aus Verdächtigen in den Augen einer breiten Öffentlichkeit Schuldige. Obwohl der Anschlag in der Keupstraße damals noch in keinerlei Verbindung zu den zum damaligen Zeitpunkt fünf NSU-Morden gesetzt wurde, griffen in den polizeilichen Ermittlungen und der medialen Berichterstattung die selben Mechanismen: Den Opfer und ihren Angehörigen wurde die Solidarität verweigert, sie wurden zu Verdächtigen erklärt. Ein Stigma, das offenbar für viele absolute Plausibilität hatte und lange Zeit anhielt. Viele der Betroffenen beschreiben die polizeilichen Ermittlungen, die mediale Berichterstattung und die gesellschaftliche Ausgrenzung als ‚Anschlag nach dem Anschlag‘.
Seit Mai 2013 findet in München der Prozess gegen einige Mitglieder und Teile des Unterstützer_innenumfeldes des NSU statt. Die Anschläge und Morde des NSU sind ein trauriger Höhepunkt einer Kontinuität mörderischer rechter Gewalt in Deutschland. Sie sind aber ebenso Resultat des Handelns der Sicherheits- und Repressionsorgane: die Schuld liegt auch bei den Verfassungsschutzämtern, die Nazistrukturen logistisch und finanziell unterstützen und zum Teil selbst an deren Entstehung und Aufbau aktiv beteiligt waren. Auch Polizeistrukturen, die Ermittlungen und Maßnahmen gegen Naziterroristen verschleppen, deren Ermittlungspraxis (noch immer) bis ins Innerste rassistisch ist und die die Opfer in der Keupstraße und die Opfer und Angehörigen der NSU-Morde zu Verdächtigen machten, zählen zu den Verantwortlichen. Diese Muster staatlichen Handelns lassen sich nicht allein aus der bösen Absicht einzelner Akteur_innen herleiten. Die Unfähigkeit rechten Terror zu erkennen bzw. der Unwille ihn zu verhindern, das Versagen oder die Kollaboration einzelner Kräfte bei Polizei, VS und MAD werden nur dann annähernd begreiflich, wenn sie mitsamt ihres gesellschaftlichen Gefüges in den Blick genommen werden: Deutschland als postfaschistische Gesellschaft, in der sich in Behörden Überreste von NS-Ideologie und persönliche Seilschaften lange tradieren konnten, die in dem autoritären Institutionengefüge des Geheimdienstes und anderer Repressionsorgane besonders zur Geltung kommen. Deutschland als Gesellschaft, in der rassistische Ausgrenzung immer noch konstitutiv ist und sich regelmäßig in rassistischen Gewalttaten Bahn bricht: Deutschland 1994, Deutschland 2004, Deutschland 2014.
Vom 12. Januar 2015 an wird das Oberlandesgericht München den Nagelbombenanschlag auf die Keupstraße und ihre Bewohner_innen’ behandeln. Ab dem 20. Januar 2015 werden die Betroffenen befragt. An diesem wird es in München eine Kundgebung und Demonstration in Solidarität mit den Opfern des Anschlags in der Keupstraße und allen anderen Opfern des NSU und rechter Gewalt geben. Auch in anderen Städten sind Solidaritätsaktionen geplant. Die Aktionen werden organisiert von der Kölner Initiative ‚Keupstraße ist überall‘ und dem Münchner ‚Bündnis gegen Naziterror und Rassismus. Wir als antifaschistische Gruppen sind Teil dieser Bündnisse. Wir wollen Solidarität zeigen mit den Betroffenen, von denen einige als Zeug_innen und/oder Nebenkläger_innen im Prozess auftreten. Wir wollen einen Rahmen schaffen, in denen die Stimmen der Opfer gehört werden, die von Anfang an auf die möglicherweise rassistischen Hintergründe des Anschlags in der Keupstraße und der NSU-Morde hingewiesen haben. Auch als antifaschistische Linke müssen wir unsere Konsequenzen aus dem Terror des NSU, dem Versagen, Vertuschen und Vorantreiben durch die Repressionsbehörden und dem gesellschaftlichen Rassismus ziehen.
Wir sind der Ansicht, dass die antifaschistische (radikale) Linke ihre Antworten auf den Terror des NSU noch nicht gefunden hat und dass die Debatten über diese Fragen schnell wieder abgenommen haben. Ein großer Teil der Fragen, die sich vor Prozessbeginn gestellt haben, werden weiterhin unbeantwortet bleiben: Wie funktionierte der NSU, wie groß war sein Netzwerk und wer wusste wie viel? Wie genau liefen die Unterstützungsleistungen durch den VS ab? Aber auch eine Reihe anderer Fragen ergeben sich für uns: Wie können wir umgehen mit der Historisierung des NSU? Wie können wir umgehen mit dem Schlussstrich, den viele mit dem Urteilsspruch herbeisehnen? Wie können wir umgehen mit der Vereinnahmung des Gedenkens an die NSU-Opfer durch Merkel, Gauck und andere? Wie können wir die Deutungsmacht des Verfassungsschutz über Nazis und radikale Rechte durchbrechen? Wie können wir die Legitimität von Verfassungsschutz und Geheimdiensten wirksam in Frage stellen? Vor allem aber: Wie können wir rassistische Gewalt und rechten Terror früher erkennen und wirksamer bekämpfen? Wie können wir Verhältnisse schaffen, die nicht durch rassistische Ausgrenzung und Gewalt bestimmt sind, sondern durch gesellschaftliche Teilhabe und Solidarität?
Woher kommt der NSU?
Die Neonazis des NSU, aber auch die meisten ihrer Unterstützer_innen, erfuhren ihre politische Sozialisation Anfang der 90er Jahre. Im Zuge der Wiedervereinigung erstarkte damals der deutsche Nationalismus. Offener Rassismus erhielt immensen gesellschaftlichen Zuspruch. Pogrome, Brandanschläge und die faktischen Abschaffung des Grundrechts auf Asyl waren die Höhepunkte dieser nationalistischen und rassistischen Mobilisierung. Nazis und ein rassistischer Mob auf der Straße sorgten für Terror und die politischen Eliten „erhörten“ die „Sorgen“ der Bevölkerung und schotteten Deutschland gegen Zuwanderung ab. Der Terror der Nazis erzielte den von ihnen gewünschten Erfolg: Er erschuf ein Klima der Angst und der Bedrohung für die migrantischen Communities in der BRD. Doch nach der erfolgten Grundgesetzänderung wandelte sich das gesellschaftliche Klima und das Bündnis zwischen Mob und Elite wurde brüchig. Die in dieser Zeit politisierten Neonazis passten ihre Aktionsformen an und gingen teilweise zu Bombenanschlägen und Morden über, um ihrem Rassismus Geltung zu verschaffen.
Eine Aufarbeitung des NSU müsste die Fragen nach logistischer und ideologischer Einbindung in die deutsche Naziszene, nach der Rolle der Verfassungsschutzämter und vor allem nach dem den Morden zugrundeliegenden Rassismus beantworten. Der Strafprozess zielt jedoch im Rahmen bürgerlicher Rechtsstaatlichkeit nicht auf eine Aufarbeitung der Rolle des Staates und seiner Behörden oder des gesellschaftlichen Rassismus, sondern auf die Klärung der juristischen Schuld oder Unschuld der Angeklagten. Die Reichweite des „staatlichen Antifaschismus“ ist strukturell begrenzt: Nach der Verurteilung findet eine weitere Untersuchung der gesellschaftlichen Grundlagen nicht statt, denn sie ist nicht vorgesehen. Es liegt daher an Antirassist_innen und Antifaschist_innen, den Staat und seine Geheimdienste sowie den gesellschaftlichen Rassismus auf die Anklagebank zu befördern.
Strukturen des Rassismus
Rassistische Ausgrenzung und Benachteiligung sowie Abwertung und Stereotypisierungen von Menschen sind für die deutsche Gesellschaft konstitutiv. In allen gesellschaftlich relevanten Bereichen sind rassistische Praktiken Bestandteil der Vergesellschaftung. Der institutionelle sowie der Rassismus aus der Mitte der Gesellschaft bedingen und legitimieren sich dabei gegenseitig. Wenn Anwohner_innen mit angeblich steigender Kriminalität argumentieren, sobald Migrant_innen in die nähere Umgebung ziehen, rassistische Vermieter_innen keine Wohnungen an Menschen mit nicht-deutschen Nachnamen vergeben und der deutsche Staat Asylsuchende in abgesperrte und teilweise überwachte Lager sperrt, dann liegt diesen Praktiken unter anderem auch ein gemeinsames rassistisches Stereotyp zugrunde: Nicht-Deutsche als gefährliche Menschengruppe, die man sich besser nicht in die Nachbarschaft holt. Natürlich sind solche ideologischen Vorstellungen und Praxen oft auch widersprüchlich und von gegensätzlichen Tendenzen geprägt, was sich etwa beim Thema Migrant_innen und Arbeitsmarkt zeigt. Wenn der Staat nach jenen ruft die dem Standort „nutzen, statt ihn auszunutzen,“ das Kapital eine rassistische Unterschichtung des Arbeitsmarktes als Mittel verschärfter Ausbeutung forciert und sich das eingeborene Menschenmaterial von der Billig-Konkurrenz im Preiskampf um die Ware Arbeitskraft ausgestochen sieht, prallen unterschiedliche und auch gegensätzliche Interessen aufeinander. Diese wandeln sich zusätzlich in Abhängigkeit von wirtschaftlicher Konjunktur und der Position in der globalen Wertschöpfungskette, so dass auch widersprüchliche Artikulationen zu Migration, Arbeit und dem Umgang damit gleichzeitig nebeneinander existieren.
Durch die identitätsstiftende Vorstellung, Bestandteil einer tiefverwurzelten und unverrückbaren besonderen Gemeinschaft zu sein, werden in gesellschaftlichen Konflikten aktuelle Ansprüche („Arbeit zuerst für Deutsche“) erhoben und gesellschaftliche Ausschlüsse legitimiert. Ausbeutung, Konkurrenz und Verwertungslogik sind Grundlagen kapitalistischer Gesellschaften. Sie produzieren zwingend Ideologien der Ungleichwertigkeit, welche die Gewalttätigkeit der Verhältnisse, ungleiche Verteilung und Ausgrenzung legitimieren und erträglich machen. Die vorgestellte Gemeinschaft verstellt ideologisch den Blick auf die realen gesellschaftlichen Konfliktlagen. Sie bewirkt eine psychologische Aufwertung des Individuums durch den Ausschluss all derer, die nicht zum imaginierten Kollektiv gehören. Rassismus ist eine die gesamte bürgerliche Gesellschaft durchziehende und konstituierende Ideologie, die sich auch in institutionalisierten Praxen ausdrückt.
Von Köln nach München: Keupstraße ist überall!
Die politische Auseinandersetzung um den NSU, um Nazis und Staat, alltäglichen und institutionellen Rassismus muss weitergehen. Sieben Jahre lang wurde die Keupstraße terrorisiert – nun ist der Moment gekommen, an dem die Betroffenen ihre Wut und Empörung nach München tragen. Trotz aller Aktionen von Betroffenen und ihren Angehörigen oder Kundgebungen antifaschistischer Gruppen hat es keine angemessene gesellschaftliche Reaktion auf diese Dimension neonazistischer Gewalt und den gesellschaftlichen Rassismus, aus dem diese hervorging, gegeben. Eine intensive Auseinandersetzung ist notwendig, damit der Prozess kein Schlussstrich unter das Thema NSU darstellt, und nicht einfach wieder zur Tagesordnung übergegangen wird. Auch in der Linken muss eine Debatte angestoßen werden: Die antifaschistische Bewegung sollte sich selbstkritisch die Frage stellen, wie eine Brücke zwischen politischem Anspruch und praktischen Handlungsmöglichkeiten zu finden ist. Dass in der Causa NSU die Diskussion erlahmt ist bzw. nie richtig ins Rollen gekommen ist, verdeutlicht die eigene Ohnmacht, welche nicht zuletzt aus der Trennung antifaschistischer und antirassistischer Kämpfe resultiert. Antifaschistische Debatten dürfen sich nicht ausschließlich um die Rolle des Verfassungsschutzes drehen, sondern müssen auch die eigene Theorie und Praxis reflektieren.
Wir sind solidarisch mit den Forderungen der Opfer und ihrer Angehörigen nach einer konsequenten Aufarbeitung des rassistischen Vorgehens der staatlichen Organe und deren Rolle, der Aufdeckung des gesamten NSU-Netzwerkes und Entschädigung für die rassistischen und diffamierenden polizeilichen Ermittlungen! Für eine radikale Linke bleibt eine ausführliche Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen Rassismus und Naziterror sowohl auf analytischer als auch auf praktischer Ebene aktuell.
Die Mauer die die linksradikale Bewegung von denen trennt, die dem Rassismus zum Opfer fallen, beginnt zu wanken, wenn wir uns solidarisch an die Seite der Betroffenen stellen: Diese wollen sich nicht länger in die für sie vorgesehene Opferrolle verweisen lassen und treten den Angriffen vom Nazis, dem Staat und seinen Bullen, den Geheimdiensten und der Öffentlichkeit selbstbewusst entgegen.
Die politische Auseinandersetzung um den NSU, um Nazis und Staat, alltäglichen und institutionellen Rassismus ist nicht zu Ende. Für ein antifaschistisches Eintreten für die Überlebenden und alle anderen, die sich zu Wort melden ist es nicht zu spät.
Die Keupstraße ist überall!