REBEL WITH A CAUSE ­– Fight Capitalism and Racism!

REBEL WITH A CAUSE KampagnenplakatKrise und Rassismus – das ist der Arbeitsschwerpunkt des umsGanze!-Bündnisses 2013. Zum 20. Jahrestag der Abschaffung des Grundrechts auf Asyl haben wir die Kampagne Fight Racism Now! mit initiiert. Sie ruft für den 25. Mai zu einer bundesweiten Demonstration in Berlin auf, und wird danach den Wahlkampf kritisch begleiten.

Wir beteiligen uns wieder an den Krisenprotesten des Blockupy-Bündnisses, das für den 31. Mai/1. Juni ein Aktionswochenende in Frankfurt am Main organisiert. In diesem Rahmen planen wir u.a. ein Veranstaltungsprogramm, einen antikapitalistischen Block auf der Großdemo und einen Besuch des Frankfurter Abschiebeflughafens: Blockupy Deportation Airport!

Der dritte umsGanze!-Kongress steigt vom 5.-7. Juli an der TU Berlin. Zusammen mit Genoss_innen aus anderen europäischen Ländern wollen wir das aktuelle Ineinander von Ökonomie und Ideologie untersuchen, Erfahrungen austauschen und uns organisieren. Daneben arbeiten umsGanze!-Gruppen vor Ort zu Geschlechterverhältnissen, zur kapitalistischen Stadt, zu Gesundheit und Krankheit im Kapitalismus und zu anderen Grausamkeiten. Mit diesem Aufruf wollen wir unser Themenfeld abstecken und die kommenden Aktionen ins Verhältnis setzen.


„You can wake up now, the universe has ended.“
–Jim Stark

REBEL WITH A CAUSE
Fight Capitalism and Racism

Die Krise des Kapitalismus ist längst chronisch. Am Laufen hält ihn nur ein permanenter Ausnahmezustand: Die Generalmobilmachung im Dienst von Wachstum und Wettbewerbsfähigkeit. Gesellschaftlich produzierte Massenarmut ist in die westlichen Industriestaaten zurückgekehrt. Während die EU ihre marktradikale Ordnung vertieft, wird Herrschaft zugleich sachlicher und verrückter, kleinteiliger und autoritärer. Jedes Leben wird nach Verwertbarkeit und Herkunft sortiert. Die Festung Europa panzert sich unerbittlich gegen die globalen Folgen ihrer eigenen Konkurrenzordnung. Tausende sterben Jahr für Jahr beim Versuch, den Verwüs-tungen des kapitalistischen Weltmarkts und den Nachstellungen seiner Staatsmächte zu entkommen. Doch es zeigen sich auch Risse im Gewebe des Kapitals und seiner Institutionen, Versuche und Irrtümer sozialer Selbstermächtigung inmitten einer enteigneten Welt. Riots in englischen und französischen Städten, selbstverwaltete Krankenhäuser in Griechenland und der Widerstand der Geflüchteten in ganz Europa sind unterschiedliche Reaktionen auf die Anmaßungen einer Gesellschaftsordnung, die systematisch Ausschluss und Ausbeutung produziert. Das einmal vollmundig verkündete „Ende der Geschichte“ (Fukuyama) im globalen Kapitalismus ist vorbei. Doch etwas Besseres wird nur, wenn wir soziale Kämpfe antikapitalistisch zuspitzen und transnational verbinden – gegen den Vormarsch von Rassismus, Rechtspopulismus und Neofaschismus in Europa; gegen die falschen Sachzwänge von Verwertung und Standortkonkurrenz; gegen linke Sozialstaatsillusionen; für eine Gesellschaft ohne Kapital, Nation und Lohnarbeit.

Epochale Krise

In der fortdauernden Krise hat der Kapitalismus seine letzten Utopien abgestreift. Wohlstand und Erfüllung für alle durch entfesselte Märkte – dieses neoliberale Glücksversprechen war immer schon Ideologie. Die neoliberale Konjunktur der 80er und 90er Jahre beruhte auf verdichteter Ausbeutung, auf gigantischer Privat- und Staatsverschuldung, und auf der oft blutigen Unterdrückung von Gewerkschaften und Widerstandsgruppen im globalen Süden. Ideologie ist aber auch, dass der Kapitalismus durch bessere Regulierung und soziale Umverteilung noch einmal gezähmt und sozial ausgepolstert werden könnte. Wenn das möglich wäre, wäre es längst geschehen. Statt dessen erleben wir das exakte Gegenteil. Mit gigantischen Konjunkturpro-grammen wurden Banken und Schlüsselindustrien vor dem Kollaps bewahrt – um in gewohnter Manier weiter zu wirtschaften. Flächendeckende Kürzungsprogramme haben die Betriebskosten von Staat und Kapital gesenkt. Die fortschreitende Kommerzialisierung des Sozialen diszipliniert Lohnabhängige, Arbeitslose und Menschen in Ausbildung gleichermaßen. Wo ökonomische Zwänge alleine nicht greifen, schreiten Behörden, Polizei und Justiz ein.

Diese Austeritätspolitik ist kein Ausdruck mangelnder politischer Phantasie und Entschlossenheit. Sie ist Ausdruck einer historisch akkumulierten Zwangslage des kapitalistischen Weltsystems. Die Pointe ist: Schon die ursprüngliche neoliberale Rosskur der 70er und 80er Jahre antwortete auf eine strukturelle Verwertungskrise, die sich bis heute entfaltet. In den 60er Jahren waren die Renditen des In-dustriekapitalismus weltweit eingebrochen. Damit war auch das „fordistische“, auf mäßiger Umverteilung und Sozialpartnerschaft beruhende Wachstumsmodell der Nachkriegsjahrzehnte in Frage gestellt. Durch die neoliberale Ökonomisierung der Gesellschaft konnte dieser Verfall noch einmal gestoppt werden. Auch der Zusammenbruch des realsozialistischen Blocks ließ die dominanten Nationalökonomien und Konzerne des Westens noch einmal kräftig expandieren. Doch beides konnte die systemische Krise des Kapitals nicht lösen, allenfalls verzögern und über den Globus verschieben. Denn die Konkurrenz um Rentabilität unter-gräbt fortwährend ihre eigenen Grundlagen. Sie verlangt einen immer höheren Kapitaleinsatz, um immer kleinere Rationalisierungsspielräume immer schneller auszureizen. All dies belastet die Renditen dauerhaft, erzeugt fortwährend Überkapazitäten und verdrängt gleichzeitig immer mehr Menschen aus sozial abgesicherten Arbeitsverhältnissen. Um so schneller muss sich das Kapitalverhältnis ausweiten und intensivieren, als System einer permanenten inneren und äußeren Landnahme.

Um seine schwindenden Renditen zu sichern, ist der Weltkapitalismus zunehmend auf private und öffentliche Verschuldung angewiesen, auf Defizitkonjunkturen. Mangels lohnender Investitionsmöglichkeiten flieht Kapital zunehmend in die Finanzmärkte, die sich vor der jüngsten Krise explosionsartig ausgeweitet haben. Hier lassen sich mit Wertpapieren und aberwitzigen Derivaten – also mit Renditeversprechen auf zukünftiges Wachstum – kurzfristig überproportionale Gewinne machen, bis zum nächsten Crash. Kapitalistisches Wachstum beruht also zunehmend auf der Ausweitung genau jener spekulativen Kreditsysteme und Verwertungsketten, die in der aktuellen Krise implodiert sind, und die jetzt händeringend wieder aufgebaut werden sollen. Die sogenannte Realökonomie des Spätkapitalismus hängt am Tropf des Finanzmarkts, nicht umgekehrt. Schuld an der Krise ist nicht die unterstellte Gier von Funktionseliten, die allzu oft bloß moralisch angebellt werden, als „Bonzen“ und „Profiteure“. Schuld sind die Systemzwänge der herrschenden Gesellschaftsordnung, an deren Erlösungsversprechen noch immer eine Mehrheit glaubt.

Die aktuelle Austeritätspolitik vertieft auch die Krise der Reproduktion – all jener Tätigkeiten und sozialen Zonen, die vermeintlich abseits kapitalistischer Ausbeutung deren Grundlagen sichern und erneuern. Lebensrisiken werden privatisiert, das Private kommerzialisiert. Ungesicherte Arbeitsverhältnisse weiten sich aus, Reallöhne sinken. So werden Wohnen, Ausbildung, Gesundheitsversorgung und Rente für immer mehr Menschen dauerhaft prekär. Kinder kriegen wird zum Lebensrisiko. Die vorübergehende Rettung des Kapitals führt zur Dauerkrise des Sozialen, und zu verschärfter geschlechtsspezifischer Ausbeutung. Denn unbezahlte Reproduktionsarbeit wird unverändert vor allem Frauen abverlangt. Sie sollen in der Patchworkfamilie ihren Mann stehen, und gleichzeitig mit „soft skills“ und „emotionaler Intelligenz“ die Konflikte verdichteter Lohnarbeit ausbügeln. Der kommende Aufstand muss auch ein feministischer sein.

Europäische Widersprüche

Der europäische Kapitalismus steckt tiefer den je in der Krise – und versucht sich an ihr zu sanieren. Der drohende Zusammenbruch ist seine Jahrhundertchance, um die Eurozone doch noch und mit aller Gewalt zum wettbewerbsfähigsten Wirtschaftsraum der Welt auszubauen. Die Kernländer der EU und die „Troika“ aus EU-Kommission, Europäischer Zentralbank (EZB) und Internationalem Währungsfonds (IWF) nutzen die Abhängigkeit der Peripheriestaaten für Reformschnitte, die bislang nicht durchsetzbar waren. Eine EU-Haushaltsaufsicht überwacht die Austeritätsprogramme nationaler Parlamente und Regierungen. Deutschland hat seinen EU-Partnern eine „Schuldenbremse“ aufgezwungen, also nationale Sparverpflichtungen mit Verfassungsrang. Beides soll das „Vertrauen der Märkte“ wiederherstellen. Trotz Streiks und Demonstrationen in den betroffenen Ländern wurde diese Politik doch auch immer wieder demokratisch bestätigt – unter dem Druck eines strafenden Marktes und erpresserischer EU-Behörden.

Doch die Grundwidersprüche der EU lassen sich nicht weghexen, nur straffer organisieren. Schon die institutionelle Konstruktion der EU bzw. der Eurozone ist widersprüchlich: ein gemeinsamer Wirtschafts- und Währungsraum, dessen Staaten gleichwohl als Standorte gegen einander konkurrieren. Nationalismus bleibt deshalb der Grundton europäischer Identität. Hinzu kommt eine extrem uneinheitliche industrielle Struktur und damit ein Produktivitätsgefälle zwischen Kern- und Peripherieländern. Da geld- bzw. zollpolitischer Protektionismus einzelner Staaten nicht mehr möglich und Neuverschuldung formal streng reglementiert ist, wurde die innereuropäische Konkurrenz vor allem über Deregulierung, Privatisierung, Lohndumping und Sozialabbau ausgefochten. Und über versteckte Neuverschuldung in der Peripherie. Dieser Krisenmechanismus war hausgemacht: Deutsche und österreichische Lohnabhängige haben für ihre Standorte zwei Jahrzehnte lang klaglos Reallohnverluste akzeptiert. Ihre Gewerkschaften haben drastische Deregulierungsprogramme mit getragen. Auf dieser Basis entstand eine enorm krisenanfällige europäische Defizitkonjunktur: Überproportionaler Waren- und Kapitalexport aus den Kernländern, überproportionales Wachstum und überproportionale Neuverschuldung in der Peripherie. Dieses Scheinblüte wurde durch die globale Kreditkrise entlarvt und mit Kapitalflucht bestraft.

Die Dominanz und Interessenpolitik der kerneuropäischen Staaten gefährdet also ihr eigenes Geschäft. Portugal, Spanien, Italien und Irland stehen am Rande des Staatsbankrotts, Griechenland ist schon einen Schritt weiter. Damit ist auch der Euro in Frage gestellt, und mit ihm das Projekt EU als befriedetes kapitalistisches Zentrum. Ein Zusammenbruch des Euro würde nicht nur die Schuldentitel und Investitionen kerneuropäischer Banken und Privatanleger gefährden. Er würde die Grundlage des deutschen und österreichischen Wettbewerbsmodells in Frage stellen: einen abhängigen europäischen Binnenmarkt mit stabiler Weltwährung, in der man rund um den Globus berechenbar Schulden und Geschäfte machen kann. Deshalb überwacht nun die Troika jeden Staatshaushalt und jedes Finanzministerium, als „ideeller Gesamtkapitalist“ (F. Engels) Europas.

Anders als der deutsch-österreichische Stammtisch glauben mag, dienen also auch die nationalen Stützkredite und Einlagen in EU-Rettungsfonds dem eigenen Standort. Doch Austeritätsprogramme gefährden die Konjunktur nicht weniger als Neuverschuldung. Und die mit Stützzahlungen verbundenen Auflagen sind so drastisch, dass angeschlagene Staaten sie unter allen Umständen zu umgehen suchen. Der Spielraum des Politischen schnurrt auf die Frage ein, wie brutal Strukturanpassung durchgesetzt werden kann, ohne dass die betroffenen Staaten daran kollabieren – und mit ihnen die EU.

Widerstand und Sadomasochismus

Der soziale Kollaps in den Peripheriestaaten offenbart die ganze Absurdität einer Gesellschaftsordnung, in der steigende Produktivität mit wachsender Verarmung einher geht. Gleichzeitig werden aber auch Ansätze von Widerstand und Selbstorganisierung sichtbar. Allein in Spanien stehen derzeit 800.000 kreditfinanzierte Wohnungen leer, während 400.000 Menschen zwangsgeräumt wurden, und weitere 400.000 davon bedroht sind. Dagegen hat sich eine landesweite Protestbewegung entwickelt, die Räumungen immer wieder erfolgreich blockiert. In Griechenland sind die Sozial-, Gesundheits- und Rentensysteme zusammengebrochen, Tausende sterben an heilbaren Krankheiten. In dieser Situation sind überall Versorgungskooperativen entstanden, die Lebensmittel und soziale Dienste unabhängig von Markt und Staat organisieren. Krankenhausbelegschaften stellen sich gegen die verordnete Unterversorgung, Wasser- und Elektrizitätswerke werden von ihren Belegschaften besetzt und weiterbetrieben. Selbstorganisierung ist hier kein idealistisches Programm, sondern zunehmend überlebensnotwendig. Sie kann aber nur bestehen, wenn sie das private, wörtlich also das ausschließende Eigentum selbst angreift.

In Deutschland und Österreich ist dagegen weiterhin alles ruhig. Die Krise der anderen wird mit reichlich Leistungs- und Leidensstolz genossen. Die Triple-A-Kreditwürdigkeit des eigenen Staates erscheint als persönliches Verdienst. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt und aller persönlichen Initiative. Die Knute dieses nationalen Leistungsbundes ist das Regime der Jobcenter, in Österreich des Arbeitsmarktservice. Obwohl kaum existenzsichernde Anstellungen zu vergeben sind, erniedrigt es Menschen über Jahre zu buckelnden Bittsteller_innen – durch beschämende Kontrollen persönlicher Lebensverhältnisse, willkürliche Beratungs- und Bewerbungsauflagen, blödsinnige „Maßnahmen“ und immer öfter durch disziplinarische Kürzungen am ausgezahlten Existenzminimum. Um den Nachstellungen des Amts zu entkommen, akzeptieren immer mehr Menschen Arbeitsverhältnisse im wachsenden Dumpinglohn-Sektor. Zum kulturellen Leitbild wird der Sozialchauvinismus des Jobcenter-Regimes durch das Unterschichts- und Schuldner-Fernsehen. Gesellschaftlich produziertes Elend wird als persönliches Versagen vorgeführt. Die Betroffenen erscheinen als verachtenswerte Dummköpfe, und erlauben so noch dem kleinsten Rädchen, sich mit Standort und Lohnsystem zu versöhnen. Sozialpsychologisch ist das eine sadomasochistische Verhaltensweise: Identifikation mit den Agenturen der Macht, Lust an der Erniedrigung Schwacher. Auf der Seite von schnüffelnden „Sozialermittlern“ und „Schuldenberater Peter Zwegat“ genießt eine ganze Generation die Erbarmungslosigkeit von Staat und Kapital als Abendunterhaltung.

Krisennationalismus und Rassismus

Mit dem ökonomischen Kollaps südeuropäischer Staaten sind überwunden geglaubte rassistische Zuschreibungen gegenüber EU-Bürger_innen wiedergekehrt. Die deutsch-österreichische Hetze gegen einen unterstellten griechischen oder italienischen Schlendrian speist sich unmittelbar aus kapitalistischer Arbeitsideologie und Standortkonkurrenz. Der Aufstieg neofaschistischer Parteien etwa in Ungarn (Jobbik) oder Griechenland (Chrysi Avgi) steht für den Versuch, die durch Krise und EU-Integration gefährdeten sozialen Privilegien der nationalen Mehrheitsgesellschaften als archaische Rechte zu sichern. Mit ihren Angriffen gegen Roma, Migrant_innen und Geflüchtete und mit ihrem Antisemitismus inszenieren sich diese Parteien als Speerspitze eines bodenständigen nationalen Gewaltkollektivs. Dem gegenüber punkten rechtspopulistische Bewegungen in ganz Europa mit der Ideologie eines abendländischen, vorgeblich „christlichen-jüdischen“ und irgendwie bürgerlichen Kulturraums. Sie unterstellen damit eine Trennlinie, die auffallend genau den Außengrenzen des Standorts EU folgt. Entsprechend richtet sich ihr Rassismus vor allem gegen Menschen, denen eine muslimische Identität zugeschrieben wird. Alle übrigen staatstragenden Parteien organisieren Ein- und Ausgrenzung stärker nach Kriterien ökonomischer Nützlichkeit, wobei auch sie Menschen mit zugeschriebener muslimischer Identität in ständiger Bringschuld halten. Genau dafür steht in Deutschland die sogenannte Integrationsdebatte. Roma werden dagegen von vornherein als Aussätzige behandelt, als Problem, dessen man sich entledigen muss. Selbst die freie Wahl des Wohn- und Aufenthaltsorts – eigentlich Kernstück des Selbstbildes der EU als „Raum der Freiheit“ – wird eingeschränkt, wenn sie von den falschen, nicht ausreichend zahlungskräftigen oder verwertbaren Bürger_innen genutzt wird. Insgesamt ist bemerkenswert, wie eng rassistische Ausgrenzung die strukturellen Widersprüche des europäischen Kapitalverhältnisses nachbildet, und dabei fortwährend zwischen nationaler und gesamteuropäischer Perspektive hin und her springt. Ideologisch regiert europaweit die Sehnsucht nach Sicherheit und Anerkennung als Teil eines bevorrechtigten Kollektivs, nach naturwüchsiger Souveränität in Zeiten einer offensichtlich unbeherrschbaren und übermächtigen ökonomischen Krisendynamik.

Der Skandal um den Nationalsozialistischen Untergrund (NSU) offenbart die ideologische Verschränkung von rechter Straßengewalt, institutionellem Rassismus und Alltagsrassismus der Mehrheitsgesellschaft. Er offenbart aber auch die Befangenheit weiter Teile der Linken, umsGanze! eingeschlossen, deren Antirassismus meist über eine weißdeutsche Perspektive nicht hinauskam. Behörden, Medien und Öffentlichkeit haben ein Jahrzehnt lang und gegen jede Evidenz die Opfer einer Nazi-Mordserie und ihre Angehörigen als kriminell Verstrickte stigmatisiert, als Mitglieder zwielichtiger „migrantischer Communities“. Rassistische Zuschreibungen wie „Döner-Morde“ und „SoKo Bosporus“ schützten vor allem das notorisch gute Gewissen der weißen Öffentlichkeit. Einer Öffentlichkeit, die mordende Nazis und Antifaschist_innen als „Extremist_innen“ gleichsetzt, um sich selbst als Maß und Mitte zu genießen; die „Vielfalt“ zum Leitbild erklärt, aber nach Verwertungsinteressen und eigenen ideologischen Bedürfnissen ausbuchstabiert. Modern an diesem modernisierten Rassismus ist nicht seine Sympathie für Fachkräfte aus dem Ausland, sondern seine ideologische Flexibilität, die je nach Lage zwischen liberalen, kulturchauvinistischen und rassenbiologischen Deutungsmustern hin und her gleitet. Der Karneval der Kulturen und rassistische Son-dergesetze sind zwei Seiten der gleichen Medaille.

Every refugee is a political refugee

Das deutsch-europäische Asyl- und Abschieberegime kommt mit deutlich geringerem Rechtfertigungsaufwand aus. Wer hierher flieht ist bestenfalls „Wirtschaftsflüchtling“, auf jeden Fall aber abzuschieben. Das ist gesamteuropäischer Konsens.Die militarisierte EU-Grenzschutzagentur FRONTEX zwingt Flüchtende Tag für Tag auf lebensgefährliche Routen. In den vergangenen 20 Jahren wurden so mehr als 16.000 Menschen in den Tod getrieben. Wer Europa erreicht wird systematisch entrechtet. Behördenwillkür, Polizeigewalt und gewollte Unsicherheit während der Asylverfahren erniedrigen und zermürben Geflüchtete systematisch. Suizid-versuche sind an der Tagesordnung. Abschiebungen werden europaweit koordiniert und mit den Verfolgerstaaten abgestimmt. Künftig sollen Flüchtende noch leichter schon bei ihrer Ankunft inhaftiert werden können.

Ausgangspunkt dieses europäischen Ausgrenzungsregimes ist die faktische Abschaffung des Grundrechts auf Asyl in Deutschland am 26. Mai 1993. Nach einer rassistischen Hetzkampagne der christlich-liberalen Koalition, der politischen Öffentlichkeit und fast aller Medien, und nach einer Welle rassistischer Mordanschläge und Pogrome hatte die SPD dieser Grundgesetzänderung zur nötigen Zweidrittelmehrheit verholfen. Die Streichung des symbolhaft „antifaschistischen“ Artikels 16, der allen „politisch Verfolgten“ einen verbindlichen Anspruch auf Asyl garantiert hatte, geriet unmittelbar nach der Wiedervereinigung zur nationalen Souveränitätsgeste, zur rassistischen Unabhängigkeitserklärung Deutschlands gegenüber seiner Geschichte. In direkter Folge zündeten Nazis das Haus der Solinger Familie Genç an und ermordeten fünf Menschen. Durch den neu eingeführten Artikel 16a und durch das ebenfalls 1993 beschlossene Asylbewerberleistungsgesetz wurde systematische Diskriminierung legalisiert: Geflüchtete müssen zumeist in überfüllten Sammellagern leben. Fast überall unterliegen sie einer strafbewehrten „Residenzpflicht“ und dürfen ihren Landkreis nicht verlassen. Versorgt werden sie in der Regel weit unterhalb des gesetzlichen Existenzminimums über Sachleistungen und ein entmündigendes Gutscheinsystem. Ohne Arbeitserlaubnis bleiben sie dauerhaft abhängig oder werden in illegalisierte Anstellungen gedrängt.

Mit der ebenfalls seit 1993 geltenden „Drittstaatenregelung“ schottet sich Deutschland rechtlich nahezu vollständig gegen Asylsuchende ab. Demnach sind Flüchtende von vornherein vom Asylverfahren ausgeschlossen, wenn sie über einen „sicheren Drittstaat“ eingereist sind, in dem keine politische Verfolgung herrscht und ein Asylantrag möglich ist. Und da Deutschland selbst alle umgebenden Staaten für sicher erklärt hat, lassen sich fast alle Asylgesuche schon formal abweisen. Wer per Flugzeug einreist, kann in verkürzten „Flughafenverfahren“ abgefertigt und umgehend abgeschoben werden. Die europäische Asylrechtsarchitektur ist der verlängerte Arm dieser Abschottungspolitik. Geflüchtete werden in einer gesamteuropäischen Datenbank erfasst und überwacht. Sie müssen in der Regel im ersten Einreiseland einen Asylantrag stellen, also zumeist in den Krisenstaaten der europäischen Peripherie. Dort, vor allem in Griechenland, Italien und Ungarn, herrschen selbst nach Ansicht deutscher Gerichte menschenunwürdige Bedingungen. Es drohen Internierungslager, Obdachlosigkeit, fortwährende rassistische Polizeigewalt und willkürliche Abschiebungen.
Die „Festung Europa“ ist Sinnbild einer globalen Ordnung, die für die Freiheit von Kapital und Waren über Leichen geht. „We are here because you destroy our countries!“ („Wir sind hier weil ihr unsere Länder zerstört!“) – mit diesem Slogan attackieren Flüchtlingsinitiativen überall in Europa den billigen Humanismus eines Kontinents, der sich mit ein paar handverlesenen politisch Verfolgten schmückt, aber mit den von ihm selbst verursachten sozialen und politischen Katastrophen auswärts nichts zu tun haben will. Postkoloniale Macht- und Ausbeutungsverhältnisse bedrohen Leib und Leben von weitaus mehr Menschen als jede finstere Diktatur. Westlicher Rohstoffhunger und westliche Marktmacht zerstören die Existenz von Millionen. Deshalb ist der Kampf um globale Migrationsfreiheit immer auch ein Kampf gegen die kapitalistische Ordnung, ihre Grenzen, ihre Bullen, ihre Staaten und Fabriken.

Alles muss man selber machen…

Krise und Rassismus, Austerität und Konkurrenz bis ans Ende aller Tage – und trotzdem drängt sich keine Alternative auf. Konzepte für einen „nachhaltigen“, „grünen“ oder „inklusiven“ Kapitalismus kratzen nicht mal an der Oberfläche von Lohnarbeit und Standortkonkurrenz. Die Perspektive einer libertären, von Markt und Staat emanzipierten, eben kommunistischen Gesellschaft wirkt zumindest in Deutschland und Österreich so illusorisch wie vor der Krise. Das liegt auch am fatalen Vermächtnis des Staatssozialismus. Es zeigt aber vor allem, wie tief das Kapitalverhältnis und seine Institutionen hier und heute gestaffelt sind, wie eng die Ordnung des Privateigentums alles Denken, Fühlen und Handeln einschnürt. Gerade deshalb müssen die systemischen Zwänge des kapitalistischen Alltags und des autoritären Krisenregimes der EU also solche benannt und angegriffen werden. Alles andere ist Quark. Die aktuelle Runde sozialer Kämpfe in den europäischen Peripheriestaaten bietet eine Chance, nationale Spaltungslinien zu überwinden. Sie birgt aber auch die Ge-fahr nationalistischer und rassistischer Eskalation. Deshalb brauchen es eine radikale Linke, die in soziale Bewegungen interveniert oder selbst welche anzettelt, die sich gegen die Anziehungskraft ideologischer Krisendeutungen stemmt und Rassismus auf allen Ebenen angreift. Die Kritik des Kapitalverhältnisses muss die Mechanismen der Macht in allen Lebensbereichen entziffern und untergraben. Auch Antirassismus ist erst konsequent, wenn er alltägliche Diskriminierung und globale Ausbeutungsverhältnisse in ihrem Zusammenhang bekämpft. Mit Fight Racism Now!, Blockupy und unserem Kongress wollen wir genau das versuchen. Zusammen mit Genoss_innen aus anderen Ländern wollen wir die Initiativen und Erfahrungen des letzten Jahres, von M31 und Blockupy, vom Refugee-Protest und den Kämpfen gegen staatlichen Rassismus aufnehmen und weiter treiben. Antikapitalistische und antirassistische Kämpfe gehören zusammen – in einer wirklichen Bewegung, welche den jetzigen Zustand aufhebt.

  • 25. Mai 2013 (Berlin)

    Fight Racism Now!

    Bundesweite Demo zum 20. Jahrestag der Abschaffung des Grundrechts auf Asyl und des Mordanschlags von Solingen.
    fightracismnow.net

  • 31. Mai und 1. Juni 2013 (Frankfurt)

    Blockupy Frankfurt

    Freitag: Blockade der EZB und Blockupy Deportation Airport!
    Samstag: Großdemo des Blockupy-Bündnisses
    blockupy-frankfurt.org

  • 5.-7. Juli 2013 (Berlin)

    Dritter …umsGanze!-Kongress

    an der TU Berlin

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