„Syriza war die Partei der Niederlage der Bewegung“

Ein Interview mit AK – Antiautoritäre Bewegung über Syriza, das Referendum und was (jetzt) zu tun ist.

English Version? This Way!

Wer seid ihr und wie ist euer Verhältnis zur außerparlamentarischen Bewegung und zu Syriza?
AK ist ein Netzwerk von antiautoritären Versammlungen, das 2003 gegründet wurde. Nichthierarchische, direkt-demokratische Entscheidungsfindungen und die Abschaffung von Macht bilden die gemeinsame Grundlage des Netzwerks. Wir kämpfen gegen den parlamentarischen Totalitarismus und haben keinerlei Beziehungen zu parlamentarischen Parteien. Wir sind allerdings soziale und politische Bündnisse mit einer Vielzahl von Kollektiven, Bürgern, Vollversammlungen und politischen Organisationen eingegangen, die für eine emanzipatorische, autonom selbstorganisierte Gesellschaft gegen Staat und Kapital kämpfen.

Syriza war „die Partei der Bewegung“. Welche Form der Beziehung hat Syriza jetzt zur Bewegung?
Syriza war die Partei der Niederlage der Bewegung und ihrer Unfähigkeit, brauchbare Alternativen im Kreislauf von Krise und Kämpfen zu liefern. Je näher Syriza der Chance einer parlamentarischen Überlegenheit kam, desto größer wurde die Distanz zu den Praktiken der Bewegung. Die Übernahme einer Vielzahl von populistischen Ex-PASOK Politiker_innen in die Partei machte deutlich, dass Syriza das Ergebnis der Niederlage der Plätze war, Alternativen der direkten Demokratie anzubieten anstatt eines dialektischen Aufblühens der sozialistischen Bewegung. Die Mitglieder von Syriza verhielten sich als wahre Erb_innen des Stalinismus, der alle linken Parteien in Griechenland ausmacht. Jede Absurdität ihrer Führung wird verteidigt, statt sie zu kritisieren und eine Agenda der Bewegung zu voranzutreiben. Dies wurde nach den jüngsten Entwicklungen noch deutlicher, als ein Teil der Mitglieder von Syriza aus der Partei flohen, weil sie nicht mit den Konsequenzen ihrer Entscheidungen umgehen können. Andere unterstützen die Regierung mit dem Argument, dass es keine Alternative gäbe (TINA). Die Wahrheit ist, dass jede_r , der_die für Syriza steht, den Krieg gegen die Bewegung
verkündet hat.

Hattet ihr irgendwelche Hoffnungen oder Erwartungen, als Syriza an die Macht kam?
Hat sich das nach dem Referendum und der folgenden Regierungspolitik geändert?
Als Organisation kämpfen wir gegen die Politik der Zuweisung und des Parlamentarismus, daher hatten wir keine falschen Erwartungen, was Syriza nach der Machtübernahme tun würde. Ein Teil des Diskurses um Syriza berührte sich mit den Zielen der Bewegung. In diesen Bereichen glaubten wir, die Regierung erpressen zu können, einige Reformen durch- und weiterzuführen, zu denen sie sich selbst bekannt hatte, z.B. die Abschaffung der Hochsicherheitsgefängnisse, Abschaffung der Flüchtlingslager, Abschaffung von Sonntagsarbeit im kommerziellen Sektor. Wir haben jedoch nur kleinere Änderungen erreicht. Tatsächlich haben die kürzlich beschlossenen Maßnahmen einige der Reformen gestoppt, die im letzten Semester eingeführt wurden wurden und sie durch neoliberale Maßgaben ersetzt.

Wie geht die griechische Gesellschaft mit dem Verlust der Hoffnungen um, die sie in die Möglichkeit einer politischen Veränderung gesetzt hatten?
Wir hatten die griechische Gesellschaft gewarnt, dass „hinter einer großen Hoffnung eine tiefe Enttäuschung liegt“. Das hat sich bewahrheitet. Die griechische Gesellschaft wurde zum Großteil von dem populistischen, patriotischen Diskurs von Syriza überzeugt, der besagt, dass alleine durch deren Wahl die Löhne und Arbeitsplätze geschützt und alles gut werden würde. Heute ist der größte Teil der Gesellschaft verzweifelt und wütend und ein signifikanter Teil bereitet sich darauf vor, die Angelegenheiten in die eigenen Hände zu nehmen, Kämpfe gegen die kommenden Maßnahmen zu organisieren und selbstorganisierte Strukturen zu verbreiten, mit der Zielsetzung, zukünftige soziale Bedürfnisse zu erfüllen.

Das griechische Referendum über die Austeritätspolitik der EU wurde von einer großen Mehrheit mit einem „Nein“ beantwortet. Welche Teile der Gesellschaft konnten jeweils für „Ja“ und „Nein“ mobilisiert werden?
Es lässt sich argumentieren, dass die „Ja“-Unterstützer_innen Groß- und kleine griechische Kapitalist_innen waren, die Mittelklasse und Teile der unteren Schichten, die bei der Vorstellung eines Grexit in Panik geraten sind – zumindest als sich die Sache zunehmend polarisierte. Die „Nein“-Unterstützer_innen waren auf jeden Fall die unteren Klassen, Unterstützer_innen von Syriza, Menschen aus der Bewegung und die extreme Rechte.

Wie hat Syriza versucht, ihre Wähler_innen zu mobilisieren? Was waren verbreitete Argumente?
Syriza wollte das Referendum zu einer Verhandlungswaffe machen. Sie haben betont, dass der Grexit nicht ihr Ziel ist, sondern dass ein starkes NEIN ein deutliches Signal an die EU senden würde, dass die Austeritätspolitik nicht länger gelten würde. Sie haben zudem herausgestellt, damit die europäischen Werte von Solidarität und Demokratie zu respektieren.

Wie ist die antiautoritäre Bewegung mit dem Referendum und dessen Ergebnis umgegangen?
Das Referendum war eine schwierige Angelegenheit. Der überwiegende Teil der antiautoritären Bewegung hat mit einem „Nein“ gestimmt, weil damit die unteren Klassen ihrem Widerstand gegen die extremen neoliberalen Reformen Ausdruck verleihen konnten. Darüber hinaus bestand die Hoffnung, mit dem Referendum könnte ein neuer Aufschwung der Bewegungen einhergehen. Ein anderer Teil der Bewegung widersetzte sich dem Referendum als einem parlamentarischen Verfahren und als falsche Wahl, ein falsches Dilemma. Alle Teile der Bewegung analysieren und diskutieren jetzt die Probleme und Möglichkeiten, die kommen werden, seit Syriza den Menschen den Krieg erklärt hat und das fortsetzt, was die vorherigen Regierungen getan haben.

Wie hat die griechische Gesellschaft auf die Tatsache reagiert, dass die Regierung jetzt die Austeritätsmaßnahmen durchsetzt und auf diese Weise das Ergebnis des Referendum negiert?
Allgemein herrscht Verzweiflung. Es handelt sich um eine ambivalente Situation, die entweder in Apathie und Kapitulation zum Dogma der Alternativlosigkeit umschlagen kann oder im Aufbau des Bewusstseins, dass im Parlamentarismus und der Parteienpolitik keine Hoffnung liegt, und wir deshalb unsere Angelegenheiten in die eigenen Hände nehmen müssen.

Profitiert eigentlich Golden Dawn von den jüngsten Entwicklungen innerhalb der Regierung und Syriza? Oder hat das Bekämpfen der Führungsriege eine Reaktion unmöglich gemacht?
Es gibt eine weit verbreite Angst, dass Golden Dawn aus dem Zusammenbruch des sozialen Images der Regierung einen Nutzen ziehen könnte. Das ist keine absurde Angst, bedenkt man, dass der patriotische, populistische Diskurs von Syriza der letzten Jahre eine Rhetorik legitimiert hat, die Golden Dawn mit Disziplin und ohne Widersprüche bedienen kann. Es stimmt aber auch, dass Golden Dawn als Partei – und man könnte sagen, als Bewegung – noch immer benommen und desorientiert ist von den juristischen Schlägen und den inneren Spannungen. Niemand kann die politischen Ergebnisse des juristischen Ausgangs des Nazi-Prozesses abschätzen, ein Prozess der mehr als eineinhalb Jahre dauern könnte, aber bisher war die Partei nicht in der Lage, jemand anderes als die 5% ihrer Wählerbasis zu überzeugen. Wir glauben, dass der Populismus der extremen Rechten durch andere Teile des politischen Spektrums bedient werden kann und wird: etwa von ehemaligen Mitgliedern der Nea Dimokratia. Von dem Verlust des politischen Kapitals von Syriza werden aber hauptsächlich die „Extremist_innen der Mitte“ profitieren, die Koalition von Potami, Pasok und Nea Dimokratia, die sich als „verantwortungsvolle politische Kraft gegen jeden Extremismus, ob links oder rechts“ positionieren.

Teile der europäischen Linken hatten gehofft, dass die Entwicklungen in Griechenland, die Möglichkeit eines Bruchs mit dem neoliberalen „Block“ eröffnen würden. Ist das noch immer realistisch? Schließlich wurden vor zehn Jahren ähnliche Hoffnungen in Südamerika gesetzt.
Wir glauben, dass die jüngsten Entwicklungen für sich selbst sprechen. Unser Ziel war es nie, einem der populistischen Projekte in Lateinamerika zu ähneln. Ihr müsstet also diejenigen fragen, die solche Politiken und Theorien unterstützen. Die Europäische Union war ein Kind konservativer rechter Eltern und kann nicht fundamental verändert werden. Wir glauben, dass das Auftreten eines europäischen Totalitarismus nicht durch seine eigenen Institutionen bekämpft werden kann, sondern durch die Straße und deren Strukturen einer transnationalen, antiautoritären, emanzipatorischen Bewegung, die für soziale und individuelle Autonomie kämpft.

In Deutschland war der Grexit überwiegend eine rechte (nationalistische) Idee, wird aber zunehmend von Teilen der radikalen Linken vorangetrieben. Sie kritisieren Syriza dafür, keinen Plan B etabliert zu haben, der ihre Verhandlungsposition eventuell gestärkt, aber auch als reale (emanzipatorische) Option fungiert hätte und folglich die Architektur des kapitalistischen Europas intakt gelassen zu haben. Könnt ihr kurz den Diskurs über den Grexit in Griechenland und eure Position als eine Gruppe beschreiben, die sich auf Selbstorganisierung gegen den Staat konzentriert?
Der Grexit wurde schon immer von einem großen Teil der Linken aufgegriffen, innerhalb von Syriza, KKE, ANTARSYA und auch einigen anarcho-kommunistischen Kollektiven, als erster Schritt der Emanzipation von der neoliberalen Hegemonie der EU. Natürlich sprechen all diese Positionen von einer nationalen Währung und dem Schuldenschnitt. Viele Menschen der Bewegung glauben auch, dass der Bankrott des Grexits eine fruchtbare Periode der sozialen Intervention für die Bewegung sein könnte. In Wahrheit überschätzen diese Meinungen das Potential des Staates, sozialen Wandel unterstützen zu können. Obwohl es klar ist, dass es keine ernsthafte soziale Transformation innerhalb des europäischen institutionellen Totalitarismus geben kann, sollten wir daran denken, dass die Wahl eines monetären Systems und der Etablierung von Beziehungen mit anderen Staaten eine Wahl der Bosse für die Bosse ist und die Gesellschaft dabei nicht gefragt wird. Oder wenn sie – wie bei dem Referendum – gefragt wird, die Meinung nicht zählt.

Argentinien, Großbritannien und viele andere Staaten haben eine nationale Währung, sind jedoch weit davon entfernt, libertäre Projekte zu sein! Statt danach zu fragen, welcher Staat die Freiheit unterstützen kann, was nichts anderes als der Selbstmord seiner Institutionen ist, also etwas, das niemals geschehen wird, sollten wir mit unserem wirklichen Vermögen argumentieren: Die Generalisierung, Stärkung und Verteidigung von selbstorganisierten Institutionen, die durch die Entwicklung von Kämpfen und permanenter Selbstkritik und Verbesserung in der Lage sein werden, ihre Interessen gegen den nationalen und transnationalen Staatsapparat zu behaupten. Um ein Beispiel für diese Sichtweise zu geben: Stellt euch vor, es gäbe nicht eine VIO.ME, sondern tausend selbstorganisierte Unternehmen, die ihre Produktion durch Netzwerke von sozialen Zentren und mittels eines selbstorganisierten Währungssystems, das die nationale Währung in kleineren oder größeren Teilen der Transaktion ersetzt, koordinieren würde. In so einem Kontext wären Grexit oder kein Grexit, finanzieller Kollaps oder organisierter Bankrott Ergebnisse, die uns nicht so sehr betreffen würden. Dieses Projekt ist heute weit entfernt von seiner Verwirklichung, doch die Grundsteine wurden gelegt und es gibt einen langsamen, aber stetigen Weg hin zu dieser Form einer konstituierten Bewegung.

Hat die außerparlamentarische Opposition immer noch die Fähigkeit zur Mobilisierung, nach dem das (äußerst beschränkte) reformistische Projekt offenkundig erneut gescheitert ist? Wird es zu zunehmender Selbstorganisation kommen sowie einem Fokus auf die Politik der Bewegungen? Oder führt die Situation zu einer politischen Depression?
Die Frage beschreibt die wichtigste politische Wette der kommenden Periode. Unser Ziel ist es, aus Verzweiflung Wut zu machen, Verlust der Hoffnung zu Kreativität und Zuweisung zu Engagement. Die Bewegung ist wieder erwacht und die Welt der Selbstorganisation und Selbstverwaltung ist bereit, ihre historische Verantwortung zu übernehmen.

Was schwebt euch da vor? Wie geht es jetzt weiter?
Es gibt eine wichtige Initiative, in die wir all unsere Energie stecken werden, um diese neue kapitalistische Attacke zu beantworten. Sie nennt sich „Nein heißt nein – ihr könnt nicht/wir können“, inspiriert durch den Slogan von VIO.ME. Das Ziel ist 1. massiven und militanten Widerstand gegen die Austeritätsmaßnahmen zu entwickeln und Selbstverteidigung vor staatlichen Angriffen (Räumungen, Sonntagsarbeit etc.) zu verbreiten. 2. Selbstorganisierung, selbstverwaltete Projekte, soziale Sorge-Initiativen voranzutreiben und deren Kommunikation und Koordination zu fördern. 3. Projekte des Widerstandes sowie Selbstorganisation und soziale Reproduktion (Graswurzel) sollen koordiniert, vereint und intensiviert werden. 4. Transnationale Kooperation und Solidarität gegen patriotischen Populismus zu fördern, der in der griechischen Gesellschaft aufsteigt. Das Beyond Europe Camp gegen die zerstörerischen Goldminen in Chalkidiki ist eine wichtige Möglichkeit für die internationale Bewegung, um zu diskutieren, zu analysieren und die ersten Schritte einer Strategie der Selbstorganisation gegen Staat und Kapital zu gehen.

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