2.1 – Systemcharakter gesellschaftlicher Herrschaft

In den Jahrhunderten seiner Entfaltung hat der Kapitalismus unermesslich leistungsfähige und differenzierte Industrien hervorgebracht – eine organisierte, gesellschaftliche Macht gegen die Naturverfallenheit primitiver Existenz. Nie zuvor in der Geschichte der Menschheit sind ihre technischen Kenntnisse und produktiven Fähigkeiten derart sprunghaft gestiegen. Zum ersten Mal in ihrer Geschichte verfügt sie über die Mittel, um alle Menschen vor Hunger und vor den meisten Krankheiten zu schützen. Und mit jedem Tag erwirbt sie neue Fertigkeiten, die das Leben aller Menschen verlängern und verschönern könnten.

Doch die Jahrhunderte des Kapitalismus sind zugleich randvoll mit organisierter Gewalt, massenhaftem Elend und einsamer Verzweiflung. An die Spitze dieser zivilisierten Barbarei stellte sich die nationalsozialistische deutsche Gesellschaft mit Vernichtungskrieg und Holocaust. Und während die kapitalistischen Zentren periodisch auf den ewigen Frieden in ihren Gefilden anstoßen, sterben abseits die Menschen noch immer wie die Fliegen durch längst vermeidbare und heilbare Krankheiten, und im Kampf um verwertbare Ressourcen.
Die sichtbaren Leichenhaufen der kapitalistischen Welt sind aber nur Exzesse ihrer alltäglichen Irrationalität. An die Stelle der oft primitiven Naturverfallenheit vorindustrieller Gesellschaften ist eine neue, bezwingende Abhängigkeit getreten. Produziert wird nicht in gesellschaftlicher Selbstbestimmung nach bewussten Zwecken und ausgehend von grundlegenden Bedürfnissen. Produziert wird unter den Zwängen der Kapitalverwertung, unter einem System unternehmerischer und staatlicher Konkurrenz, um den Reichtum der Welt. Dass dabei durch ›Angebot und Nachfrage‹ eine ›optimale Steuerung‹ der Produktion erreicht würde, ist bürgerliche Ideologie. Für die Mehrheit der Menschen werden existentielle Bedürfnisse nicht nur nicht erfüllt. Sie werden innerhalb der kapitalistischen Verwertungslogik systematisch missachtet und verletzt.
Nachdem der Kalte Krieg die Zwänge und wiederkehrenden Krisen des Kapitalismus militärisch und sozialstaatlich eingekapselt hatte, jagen sie seit 1989 erneut um den gesamten Globus. Auch entwickelte Industrieländer müssen erfahren, dass ihr Wohlstand und ihre wirtschaftliche Vormacht nicht länger garantiert sind. Deshalb werden alle gesellschaftlichen Ressourcen für die globale Konkurrenz mobilisiert. In den ehemaligen kapitalistischen Zentren entfallen soziale Garantien des Staates. Opportunismus, seit jeher Merkmal der bürgerlichen Individualitätsform, wird zu einem immer vordringlicheren Charakterzug der kapitalistisch vergesellschafteten Menschheit.
›Ungerechtigkeit‹ und sozialer Ausschluss sind in einer Weltordnung, die auf Konkurrenz und Ausbeutung beruht, keine zufälligen Vorkommnisse, sondern systematisch angelegt. Ökonomische und soziale Krisen sind kaum jemals auf falsche Politik zurückzuführen. Sie sind schlicht und ergreifend die Art und Weise, wie sich kapitalistische Konkurrenz als System gesellschaftlicher Herrschaft reguliert. Das bedeutet nicht, dass Politik gegenstandslos wäre. Es ist nicht gleichgültig, mit welcher Politik auf strukturelle Krisen reagiert wird. Doch in ihren institutionalisierten Formen reproduziert Politik die Voraussetzungen des kapitalistischen Irrationalismus. Sie ist Teil einer Weltordnung, in der die nächste ›humanitäre Katastrophe‹ und der nächste ökonomische oder psychische Crash nur eine Frage der Zeit sind. Insofern ist der kapitalistische Normalvollzug bereits die Katastrophe. Seine politische und institutionelle Form ist der bürgerliche Staat. Mit der Verschiebung einiger Staatsfunktionen auf Staatenbündnisse wie die EU ändert sich deren Träger, nicht aber deren umfassende gesellschaftliche Wirksamkeit.

2. Kapitalismus und Staat – Staat und Weltmarkt

In entwickelten kapitalistischen Ökonomien ist den Menschen ihr Dasein als Privateigentümer und Konkurrenten zu einer unhinterfragten Selbstverständlichkeit geworden. Egal ob sie ihren Lebensunterhalt als Lohnabhängige verdienen müssen, als unternehmerisch ›Selbständige‹, als Manager1 oder in irgendeiner scheinselbständig-prekären Hybridgestalt: stets stehen sie in Konkurrenz mit ihresgleichen – um Arbeitsplätze und Beförderungen, um Aufträge und Profite, um Gewinnanteile und Wachstumsraten. Und diese Konkurrenz wird im Kapitalismus niemals enden. Die Fürsprecher dieser Gesellschaftsordnung halten das für höchstmögliche Freiheit: Im Wettstreit der besten Köpfe und Hände entfalten sich die Individuen zu höchster Schöpferkraft, die Menschheit als ganze zu wirtschaftlicher und kultureller Blüte. Und tatsächlich hat es den kapitalistischen Jahrhunderten an Produktivität nicht gemangelt. Der Antrieb kapitalistischer Entwicklung ist ja gerade der strukturelle Konkurrenzzwang, der Zwang zu ständiger Produktivitätskonkurrenz.
Doch kapitalistische Konkurrenz ist nicht einfach ein Wettstreit um die beste Lösung individueller und gesellschaftlicher Bedürfnisse. Ihr Zweck ist nicht das Gute Leben und gesellschaftliche Selbstbestimmung. Durch die Konkurrenzbeziehungen der einzelnen ökonomischen Akteure hindurch realisiert sich in kapitalistischen Gesellschaften ein umfassender, unpersönlicher Verwertungszwang. Von der geringsten Dienstleistung bis zur größten Industrie gilt das Prinzip, dass eine Investition einen Profit abwerfen muß. Und das ist nur durch die unbedingte Bereitschaft zu gewährleisten, ökonomische Konkurrenten auszustechen. Auch wer an diesem Verdrängungswettbewerb mangels Kapitalbasis gar nicht erst auf eigene Rechnung teilnehmen kann, unterliegt dieser objektiven Anforderung. Auch wer als Lohnabhängiger nur ›gute Arbeit‹ leisten will, wird nach dem Kriterium der Profitabilität bewertet, behandelt und gegebenenfalls entlassen. Der umfassende Verwertungszwang erneuert sich tagtäglich in der allgemeinen Konkurrenz. Die gesellschaftliche Produktion dient in letzter Instanz nicht gesellschaftlichen Bedürfnissen, sondern der erweiterten Reproduktion des Kapitals, dem Zweck, aus Geld mehr Geld zu machen. Als unentrinnbares Prinzip der kapitalistischen Produktionsweise ist dieser Verwertungszwang – paradox gesprochen – ein ›gesellschaftliches Naturgesetz‹. Und weil dieses Gesetz ganz handfest über Leben und gesellschaftliche Teilhabe entscheidet, prägt es so ziemlich jede Zone der sogenannten Individualität.
Der kapitalistische Zwang zum Selbstzwang trifft die Individuen nicht unvermittelt. Ebenso selbstverständlich wie ihre Stellung in der Konkurrenz ist ihnen ein Dasein als Staatsbürger. Sie sind Wesen aus Fleisch und Blut, doch in ihrem gesellschaftlichen Verkehr begegnen sie sich vor allem als Inhaber allgemeiner Rechte. Und diese Rechte (bzw. die vorausgesetzte ›Rechtspersönlichkeit‹ des Individuums) werden alleine vom bürgerlichen Staat garantiert, und in der Regel auch verbindlich durchgesetzt.
Tagtäglich wird in den Medien und im persönlichen Gespräch der mora lische und ökonomische Zustand des Staates bilanziert, dem Menschen durch den Zufall der Geburt angehören. Die Existenz eines allgemeinen Rechts wird befürwortet, weitreichende Auflagen wie Schulpflicht und Steuerpflicht werden grundsätzlich hingenommen. Gestritten wird nur um deren möglichst effektive Organisation. Entscheidendes Kriterium dieser Effektivität ist dabei die Fähigkeit des Staates, Bedingungen für ein erfolgreiches Wirtschaftsleben zu schaffen. Die Staatsbürger müssen sich in ihm als ökonomische Subjekte erhalten können, und der gesellschaftliche Reichtum soll tendenziell wachsen.
Unter den periodisch neu verhandelten Bedingungen des sogenannten ›Weltmarkts‹ beruht das ökonomische Wachstum eines Staates auf seiner ›Wettbewerbsfähigkeit‹ in der Staatenkonkurrenz. Doch der bürgerliche Staat ist in der Regel nicht selbst ökonomischer Akteur. Entscheidend ist die Fähigkeit einheimischer Privatunternehmen bzw. der nationalen Arbeitskraft, sich in der ökonomischen Konkurrenz um eine globale Nachfrage, um Absatzmärkte und um Investitionen durchzusetzen und zu behaupten. Der Druck der nationalen und internationalen Konkurrenz bestimmt dabei objektiv den ›Spielraum‹, den die staatlich anerkannten ›Tarifpartner‹ und der Steuerstaat selbst im Ringen um Anteile des gesellschaftlichen Reichtums haben. Den Individuen signalisiert dieser Druck tagein tagaus die Maßstäbe erfolgreicher Lebensführung.

3. Kritik ums Ganze

Staat, Kapital und ›Weltmarkt‹ bilden ein konfliktträchtiges System gesellschaftlicher Herrschaft. Es manifestiert sich in jeder Alltagssituation, und lässt sich doch nur als Ganzes bekämpfen. Andernfalls verliert sich Politik in naivem Aktionismus. Wer sich nur um vermeintlich konkrete Problemlagen kümmern will, verfehlt meist deren Entstehungszusammenhang in der staatlich vermittelten kapitalistischen Konkurrenz. In herrschaftskritischer Perspektive sind meist sämtliche Alternativen pragmatischer Politik gleichermaßen falsch. Pragmatismus und Dummheit gehen in der bürgerlichen Welt ineinander über.
Im Folgenden geht es also zunächst um eine allgemeine Funktionsbestimmung des bürgerlichen Staats als institutioneller Vermittlungsweise eines erneut globalisierten Kapitalismus, sowie um die Rolle, die dem Politischen dabei zukommt. Im Vordergrund stehen nicht die Exzesse dieser Gesellschaftsordnung, sondern ihre selbstverständlichen Voraussetzungen, aus denen jene Exzesse immer wieder entstehen, und die darum nicht weniger skandalös sind. Gegenstand ist die bürgerlich-demokratische Form der Vergesellschaftung als solche, die zugleich den Systemcharakter gesellschaftlicher Herrschaft ausmacht (Kapitel 1-5), und die Kritik der Politik innerhalb dieser Formbestimmtheit Kapitel 6). Von hier aus soll begründbar werden, was an konkreten politischen Problemlagen und Ideologien eigentlich das Problem ist, und was nicht. Die historische Entwicklung des Kapitalverhältnisses wird als Verstaatlichung des Individuums rekonstruiert. (Kapitel 7-13). Den strukturellen Konflikten dieser Herrschaftsordnung entspringen immer wieder Ideologien kollektiver Identität (Kapitel 14-17). Sie kreisen um Rasse, Geschlecht, Kultur und Religion, und finden ihre staatsbürgerliche Zusammenfassung im Nationalismus und Nationalsozialismus. Abschließend geht es um das gegenwärtige und künftige Schicksal des Nationalstaats (Kapitel 18-20).
Dass die Konjunkturen der nationalen und globalen Ökonomie als Sachzwänge erscheinen, ist Wahrheit und Trug zugleich. Wahrheit, weil das kapitalistische System der privaten Produktion des gesellschaftlichen Reichtums ständig krisenhafte Dynamiken entwickelt, die von keinem ökonomischen oder politischen Akteur zuverlässig vorhergesehen und kontrolliert werden können. Im dauernden Wettkampf der Standorte um günstige Verwertungsbedingungen (und der Unternehmen um Produktivitätssteigerung und Marktmacht) entscheidet sich der Wert eines Produkts alleine im durchgeführten Vergleich mit anderen Produkten als Waren am Markt, tendenziell am Weltmarkt. Dieser objektive Vergleich ist gnadenlos: wer nicht konkurrenzfähig ist, fällt durch. Und einen anderen Vergleich gibt es nicht. Ob die jeweils eigene produktive Investition etwas ›wert‹ ist, zeigt sich immer erst nachträglich. Diese Erfahrung mag zwar für unterschiedliche ökonomische Akteure verschiedene Konsequenzen haben – den einen ruiniert sie, dem anderen ist sie nur eine teure Lehre. Doch jedes Mal wirkt die privatwirtschaftliche Konkurrenz gesellschaftlich als eiserner Sachzwang ökonomischer Bewertung. Dieser objektive Zwang vervielfältigt sich durch tausend Brechungen hindurch in sämtliche Lebensbereiche. Auch die Kapitalisten sind durch das Band der Konkurrenz dazu verdammt, Profit zu machen oder unterzugehen. – Trug ist der Sachzwang der Konkurrenz aber, weil er nur in einer historisch spezifischen Form der gesellschaftlichen Reichtumsproduktion entsteht. Als ›Naturgesetz‹ wirken Konkurrenz und Verwertungszwang nur in Gesellschaften, in denen eine kapitalistische Produktionsweise herrscht, in der also die Menschen ihr Auskommen und Überleben jederzeit im ökonomischen Wettstreit gegeneinander produzieren müssen.

4. Der bürgerliche Staat als politische Form und Gewalt der kapitalistischen Produktionsweise

Der kapitalistische Normalvollzug hat Voraussetzungen, die nicht selbst der kapitalistischen Konkurrenz entstammen, die aber zur Aufrechterhaltung dieser Konkurrenz unabdingbar sind. Denn die einzelnen ökonomischen Akteure haben kein eigenes Interesse an der Konkurrenz als solcher. Als Konkurrenten haben sie im Gegenteil ein notwendiges Interesse an ihrem individuellen Konkurrenzerfolg, tendenziell also an einer Monopolstellung. Ihr Streben geht notwendig darauf, den ökonomischen Gegner nieder zu konkurrieren, und dazu alle verfügbaren Mittel zu mobilisieren. Dieser Logik des kapitalistischen Verdrängungswettbewerbs entsprechend, würden sie gegenüber ihren ökonomischen Widersachern auch auf Mittel zurückgreifen, die die Konkurrenzordnung ins gesamt zerstören würden: Gewalt, Täuschung, Diebstahl, Erpressung, Sabotage, üble Nachrede etc. Solche Verfahrensweisen können aber keine Regeln des Kapitalismus als gesellschaftlicher Reproduktionsordnung sein. Eine dauerhafte Verwertung des privaten Reichtums als Kapital kann nur in einem gesellschaftlichen System des ›freien Warentauschs‹ gelingen, des ausschließlich ökonomischen Widerstreits der Individuen und Unternehmen.
Es bedarf also einer Instanz, die außerhalb der kapitalistischen Konkurrenz steht, und die die Voraussetzungen dieser Konkurrenz schützt – und zwar gegen betrügerische und gewalttätige Vorgehensweisen, die durch die kapitalistische Konkurrenz selbst motiviert werden. Diese Instanz ist der bürgerliche Staat als Hüter des Rechts. Um Recht und Gesetz durchsetzen zu können, beanspruchter das Gewaltmonopol – das Monopol legitimer physischer Gewaltsamkeit gegenüber allen Menschen und ökonomischen bzw. institutionellen Akteuren auf seinem Territorium. Bereits diese zentrale Funktion des Staates dokumentiert, dass die kapitalistische Gesellschaftsordnung von einer alltäglichen Tendenz zu Gewalt und Betrug geprägt ist. Für beide gibt es in der Welt der Konkurrenz immer gute Gründe.
Eine funktionierende kapitalistische Reproduktionsweise als Ganze setzt jedoch voraus, dass der ökonomische Verdrängungswettbewerb insgesamt als freie Konkurrenz nach allgemeinen Regeln ausgetragen wird. Der ökonomische Antagonismus vollzieht sich also in der Form des Vertrags zwischen formal freien und gleichen Rechtssubjekten, die sich gegenseitig als Privateigentümer anerkennen. Jedes legale Geschäft fußt auf einem solchen Vertrag. Und diesen Vertrag garantiert der bürgerliche Staat kraft seiner hoheitlichen Monopolgewalt durch ein allgemeines Recht. Der Staat stiftet Recht nach allgemeinen Prinzipien und situativen Notwendigkeiten, setzt es mit seinen Exekutivorganen überall durch, und klärt Auslegungsfragen in geregelten Verfahren seiner Justiz. Ausbeutung beschränkt sich also in entwickelten kapitalistischen Staaten in der Regel auf die profitable Anwendung der Ware Arbeitskraft. Sie geschieht nach Recht und Gesetz, und zu einem vereinbarten und einklagbaren Lohn. Ohne die staatliche, gewaltbewehrte Einschränkung ökonomischer Konkurrenz und Ausbeutung würde diese immer wieder in direkte Gewalt umschlagen. Wohin das führt, lässt sich an institutionell desintegrierten Staaten wie Afghanistan, Somalia oder der Demokratischen Republik Kongo studieren: Wo die Autorität der Zentralregierung im Zweifelsfall an den Grenzen der Hauptstadt endet, müssen Geschäftsinteressen von Privatarmeen geschützt und durchgesetzt werden. Wegen mangelnder Investitionssicherheit stagniert die Produktivität auf extrem niedrigem Niveau. Eine moderne Industrienation kann so nicht bestehen.
Der staatliche Schutz des Privateigentums zementiert einen Zustand, in dem die Quellen des gesellschaftlichen Reichtums eben nicht gesellschaftlich besessen werden, sondern privat, d.h. ausschließend. Der Schutz des Privateigentums zwingt alle, die außer ihrer Arbeitskraft kein relevantes Eigentum besitzen, diese Arbeitskraft gegen einen Lohn zu verkaufen. Und dieser Zwang prägt ihr gesamtes Leben. Der moderne Staat ist also keine Großinstitution zur möglichst harmonischen Organisation des gesellschaftlichen Zusammenlebens. Bürgerlicher Staat und kapitalistisches Privateigentum bilden einen konfliktträchtigen Entwicklungszusammenhang, in dem der Staat die Rahmenbedingungen der kapitalistischen Konkurrenz gewährleistet, und gegen ihre eigenen Krisentendenzen sichert. Insofern ist der bürgerliche Staat – durch seine unterschiedlichen, oft im Streit liegenden Institutionen hindurch – insgesamt die ordnende Gewalt der kapitalistischen Gesellschaft. In seiner gegliederten Struktur findet „der objektive Zwangscharakter der gesellschaftlichen Reproduktion seine politische Form“ (Johannes Agnoli).

5. Ungleichheit und Herrschaft unpersönlicher Zwänge als Inhalt bürgerlicher ›Freiheit‹ und ›Gleichheit‹

Eine grundlegende Funktion des Staats besteht also darin, den gesellschaftlichen Verkehr der Menschen als freier und gleicher Privateigentümer zu garantieren. Im Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland stehen Freiheit und Gleichheit an der Spitze der Grundrechte, gleich hinter der Menschenwürdegarantie in Artikel 1. Doch Freiheit und Gleichheit werden nicht materiell gewährleistet, sondern formell bestimmt: über die freie und gleiche Rechtspersönlichkeit der Individuen als Privateigentümer. In ihrem konkreten ökonomischen Verkehr dagegen haben die Menschen offensichtlich ungleiche Konkurrenzvoraussetzungen, und sind in ihren Entscheidungen dauernd irgendwelchen Zwängen unterworfen.
Kurz gesagt: Die Garantie des Privateigentums ermöglicht es den zu Konkurrenzsubjekten vereinzelten Menschen, über ihre jeweiligen Güter frei zu verfügen. Zugleich zwingt sie die staatliche Eigentumsgarantie zur Anerkennung der Güter anderer als fremden Besitz und als Waren. Eigentum ist zuerst der Ausschluss aller vom gesellschaftlich produzierten Reichtum – und von den Arbeitsmitteln, mit denen dieser gesellschaftliche Reichtum produziert wurde. Diesen Ausschluss gesellschaftlicher Verfügung über gesellschaftlich notwendige Ressourcen kann deren jeweiliger Eigentümer zu seinem materiellen Vorteil ausnutzen: durch Einräumung einer Benutzungserlaubnis (›zur Miete‹), oder durch Verkauf. Folge des Privateigentums ist, dass nur zahlungskräftige Bedürfnisse gedeckt werden. In einer kapitalistischen Gesellschaft kann somit gleichzeitig Mangel und Überfluss an allem herrschen. Unter Voraussetzung des Privateigentums räumt die staatlich garantierte allgemeine Vertrags- und Handlungsfreiheit allen Bürgern die Möglichkeit ein, mit ihren jeweiligen Mitteln ihren ökonomischen Erfolg zu suchen. Diese Möglichkeit ist gleichzeitig ein unumgänglicher Zwang. Die Menschen sind für ihren Erfolg selbst zuständig, und müssen ihn gegen einander erringen. Das ist die positive (im Sinne von gültige) Bestimmung bürgerlicher Freiheit. Diese Freiheit wird durch die erzwungene Anerkennung anderer, feindlich konkurrierender Privatinteressen begrenzt. Da alle Bürger gezwungen sind, mit ihren Mitteln um einen privaten Anteil am gesellschaftlichen Reichtum zu konkurrieren, müssen sie für ihr Vorankommen stets auch gleichlautende Interessen anderer schädigen. ›Autonomie‹ bedeutet in der kapitalistischen Gesellschaft eben doch nicht, daß man tun kann, was man will oder was man vernünftigerweise tun sollte. Sie bedeutet im Wesentlichen, dass man jederzeit einen legalen Vertrag abschließen, d.h. eine Geschäftsbeziehung eingehen kann (und zum Überleben auch muss) – sofern sich nur jemand findet, der selbst ein privates Interesse an diesem Geschäft hat.2
Formal ist die staatliche Garantie von Freiheit und Gleichheit, weil sie von allen materiellen Abhängigkeiten und Ungleichheiten absieht, insbesondere von der Stellung der Individuen im Produktionsprozess: Genau so, wie es einem Industriellen grundsätzlich untersagt ist, im beheizten U-Bahnhof zu übernachten, ist es einem Obdachlosen grundsätzlich erlaubt, ein multinationales Unternehmen zu kaufen. Und beiden ist prinzipiell gleichermaßen verboten, ein Monopol zu bilden – es sei denn ein staatlicher Souverän erkennt darin ausnahmsweise ein ›nationales Interesse‹.3 Gegenüber besonderen privaten Wettbewerbsinteressen bleibt der Staat also neutral. Als Sachwalter eines allgemeinen Rechts garantiert er lediglich die für alle gleichen Rahmenbedingungen der Kapitalverwertung auf seinem Territorium. Seine Neutralität soll die Entwicklung der kapitalistischen Nationalökonomie als ganzer sichern, von der er als Steuerstaat zugleich selbst abhängig ist. Deshalb hat er durchaus ein parteiisches Interesse an einer gedeihlichen gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, und damit an der Aufrechterhaltung kapitalistischer Herrschafts- und Ausbeutungsverhältnisse.
Gesellschaftliche Ungleichheit entsteht nicht etwa durch ungleiche Anwendung von Recht und Gesetz, durch systematischen Betrug oder Bestechlichkeit (Ausnahmen bestätigen die Regel). Soziale Ungleichheit und Ungerechtigkeit folgen im Kapitalismus gerade aus der Gleichbehandlung der Menschen als Bürger bzw. Rechtssubjekte vor dem Gesetz. Durch die Garantie des Privateigentums sind die materiell Ungleichen darauf festgelegt, für ihr Vorankommen mit ihren ungleichen Mitteln selbst zu sorgen. Durch die Gleichbehandlung von Habenden und Habenichtsen wird gesellschaftliche Ungleichheit fortgeschrieben. Lohnabhängige tragen mit ihrer Arbeitskraft und ihrer Lebenszeit dazu bei, den privaten Reichtum all derer zu mehren, die es sich leisten können, andere für sich arbeiten zu lassen. Indem der Staat die ärgsten Folgen der gesellschaftlich produzierten Ungleichheit durch Transferleistungen mildert, hält er ihr soziales Prinzip aus der Kritik.
Deshalb blamiert sich jede Forderung nach ›Gleichberechtigung‹, die von deren gesellschaftlichem Inhalt abstrahiert: der Produktion materieller Ungleichheit. Den Kritikern dieses Resultats formeller Freiheit und Gleichheit kommt häufig nichts Besseres in den Sinn als die Forderung nach ›Chancengleichheit‹. Anstatt das Prinzip der Herstellung von Ungleichheit zu kritisieren, wird im Namen des Geschlechts, der Abstammung oder irgendeiner Kategorie ethnischer Zuordnung Anspruch auf proportionalen Zugang zu den oberen Posten und Pöstchen von Politik, Wissenschaft und Wirtschaft erhoben. Dieser Anspruch ist zwar in den meisten bürgerlichen Staaten auf irgendeine Weise rechtlich anerkannt, findet sich aber in der Wirklichkeit nicht berücksichtigt. Die Forderung nach gleichberechtigter Teilhabe am gesellschaftlichen Verdrängungswettbewerb läuft auf eine Verschiebung seiner Opfergruppen hinaus. Wen an der Sortierung in Unten und Oben nur die ungleiche Repräsentation im Oben stört, der muss sich eben ›als Frau‹, ›als Migrant‹ oder ›als Proletarierkind‹ nach oben buckeln und treten. Das Karussell läuft bereits auf vollen Touren, und es werden nur wenige Plätze frei.4
Unterm rastlosen Druck kapitalistischer Konkurrenz macht das Individuum selbst im Falle seines ökonomischen Aufstiegs die frustrierende Erfahrung, dass der gesellschaftliche Gehalt bürgerlicher Freiheit und Gleichheit wenig mit dem klangvollen Emanzipationsversprechen dieser Worte zu tun hat. Denn ihr wirklicher Inhalt ist nicht die solidarische Emanzipation der Menschheit von Naturzwang und gesellschaftlicher Herrschaft, sondern die Unterwerfung aller unter den unpersönlichen, systemischen Zwang kapitalistischer Verwertung. Also den prinzipiell uferlosen Zwang, Profite stets aufs Neue als Kapital zu investieren, und dabei andere Kapitale auszustechen, die dem gleichen Zwang unterworfen sind. In der Konkurrenz der Lohnabhängigen, der Unternehmen und der Staaten als Standorte erfasst dieser Verwertungszwang jeden Winkel der Erde. Seine Konjunkturen bleiben trotz aller Steuerungsversuche unvorhersehbar wie das Wetter, weshalb man an der Börse auch in meteorologischen Metaphern spricht. Wer aus dem weltweiten kapitalistischen Produktivitätswettlauf als Sieger hervorgeht, und wessen Investition verpufft, entscheidet sich immer erst nachträglich, als Resultat vorab unverbundener Versuche, den jeweiligen Konkurrenten zu verdrängen. In diesem System gesellschaftlicher Reproduktion ist jeder materielle Vorteil nur vorläufig, auf Widerruf in künftigen Konkurrenzschlachten. Und Konkurrenzzwang wie Krisendynamik der kapitalistischen Reproduktionsordnung stellen auch die ohnehin höchst exklusiven Freiheitsgewinne bürgerlicher Individualität immer wieder in Frage. So produziert die politische Ökonomie der bürgerlichen Freiheit systematisch individuelle und gesellschaftliche Ohnmacht. Das ist ihr Selbstwiderspruch – den der bürgerliche Staat kraft seines Gewaltmonopols aufrecht erhält.

 

1 Dieser Text verwendet bei Gattungsbegriffen das grammatische Maskulin. Wir sind uns der Diskussion um die sprachliche Repräsentation anderer geschlechtlicher Identitäten bewusst, vertreten dazu aber keine einheitliche Position.

2 Juristisch wird bereits der Kauf bzw. Verkauf einer Semmel als Vertragsverhältnis gefasst.

3 Frei nach Anatole Frances Diktum von 1894: »Die großartige ›Gleichheit vor dem Gesetz‹ verbietet den Reichen wie den Armen, unter Brücken zu schlafen, auf den Straßen zu betteln oder Brot zu stehlen.« (Aus Le lys rouge)

4 Es geht hier lediglich um den Zynismus der Forderung nach gleichberechtigter Teilhabe am gesellschaftlichen Verdrängungswettbewerb. Zur Kritik rassistischer oder geschlechtsspezifischer Diskriminierung siehe Kapitel 15.