Basistext zum G8-Gipfel

Unter dem Leitmotiv »Wachstum und Verantwortung« findet vom 6. bis zum 8. Juni im Ostseestädtchen Heiligendamm der Deutschlandgipfel der G8 (Gruppe der 7 mächtigsten Industriestaaten plus Russland) statt. Wenn derart hochkarätige Worthülsen – die wahrscheinlich gleich einer ganzen Heerschar von PR-Beratern ihre traurige Existenz als Megakreative sichern – auf die Öffentlichkeit losgelassen werden, dann ist den meisten klar: Propaganda ist im Spiel. Welche tatsächliche politische Bedeutung die Zusammenkunft der G8 besitzt, darüber ist sich wahrscheinlich nicht einmal der enge Kreis der Eingeladenen im Klaren. Ob die G8-Gipfel höher zu bewerten sind, als die Rolle der Weltbank oder der Welthandelsorganisation (WTO) im globalen Kapitalismus scheint fragwürdig; ebenso wie eine linke Agitation, die behauptet, hinter dem Anspruch der Regierungschefs, drängende Weltprobleme lösen zu wollen, verberge sich einfach nur eine »Lüge«.

Nicht weil die Gruppe der Acht die »Spinne im Netz« ist, oder die »Schaltzentrale« des »Raubtierkapitalismus«, sondern weil die G8-Gipfel als Form begriffen werden müssen, in der sich die kapitalistische Gesellschaft im Politischen reflektiert, rufen wir zum unversöhnlichen Akt der Negation auf. Eine solche politische Praxis zielt nicht auf die »One Family« der Betrogenen und Enttäuschten, sondern auf die Möglichkeit, den Skandal Kapitalismus in seiner Totalität in den Fokus der Kritik zu rücken: Seine Strukturen in Institutionen und Köpfen zu kritisieren und daraus eine Perspektive jenseits von Herrschaft, Gewalt, Verdrängung und Ausbeutung zu entwickeln.

»It seems to be easier for us today to imagine the thoroughgoing deterioration of the earth and of nature than the breakdown of late capitalism; perhaps that is due to some weakness in our imagination.« Fredric Jameson

Moving Targets…

Gesellschaft, das ist nicht einfach nur die Summe ihrer Mitglieder: Ihr Spezifisches besteht gerade im Übergewicht der sozialen Formen und Verhältnissen, welche die Beziehungen der Einzelnen zueinander strukturieren und organisieren. Die kapitalistische Produktionsweise als dominantes Strukturprinzip zu begreifen, entspricht der Notwendigkeit jeder auf Veränderung zielenden Praxis, über das Verständnis des Bestehenden Rechenschaft abzulegen. Dabei gilt es zu berücksichtigen, dass gegenwärtige Gesellschaften von einer Vielzahl von Herrschafts- und Unterdrückungsverhältnissen durchzogen sind – wie asymmetrische Geschlechterverhältnisse, Rassismus und Antisemitismus oder die Diskriminierung bestimmter sexueller Orientierungen.

Statt eines platten Denkens in Haupt- und Nebenwidersprüche, ist es für ein adäquates Verständnis von Kapitalismus notwendig, zu fragen, wie diese unterschiedlichen Formen zusammenhängen und sich bedingen. Der vorherrschende Mangel an Klarheit über die Entwicklungen des kapitalistischen Herrschaftssystems sollte nicht zu dem Irrtum führen, die Frage der Praxis und der Organisierung auf einen Zeitpunkt zu vertagen, an dem die Theorie »ausgereift« sei. Die Furcht, in Irrtum zu geraten, ist bekanntlich schon der Irrtum selbst. Auch wenn die gute Absicht nicht jeden Fehler entschuldigt, die Notwendigkeit zur Praxis ist der Unvernünftigkeit des gesellschaftlichen Zustandes geschuldet: Der Widerspruch zwischen dem noch nie da gewesenen materiellem Reichtum – der realen Möglichkeit menschlicher Freiheit – und den Zumutungen und Katastrophen, die der kapitalistische Verwertungszwang ständig produziert, sollte Grund genug sein, zur offenen Rebellion überzugehen. Weil aber Protest an sich nicht bereits emanzipatorisch ist, sondern auch zutiefst reaktionär sich artikulieren kann, ist eine radikale Linke zu mehr als bloßer »Intervention« verpflichtet. Denn eine Intervention ohne kritische Bestimmung des eigenen Standpunktes ist weniger als ein trauriges Dabeisein – sie macht sich zum Werkzeug für den falschen Zweck.

»Die Sphäre der Zirkulation oder des Warenaustausches, innerhalb deren Schranken Kauf und Verkauf der Arbeitskraft sich bewegt, war in der Tat ein wahres Eden der angebornen Menschenrechte. Was allein hier herrscht, ist Freiheit, Gleichheit, Eigentum und Bentham. Freiheit! Denn Käufer und Verkäufer einer Ware, z.B. der Arbeitskraft, sind nur durch ihren freien Willen bestimmt. Sie kontrahieren als freie, rechtlich ebenbürtige Personen. Der Kontrakt ist das Endresultat, worin sich ihre Willen einen gemeinsamen Rechtsausdruck geben. Gleichheit! Denn sie beziehen sich nur als Warenbesitzer aufeinander und tauschen Äquivalent für Äquivalent. Eigentum! Denn jeder verfügt nur über das Seine. Bentham! Denn jedem von den beiden ist es nur um sich zu tun. Die einzige Macht, die sie zusammen und in ein Verhältnis bringt, ist die ihres Eigennutzes, ihres Sondervorteils, ihrer Privatinteressen.« Karl Marx

Illegal, legal, scheißegal: G8 legitim!

Den Deutschlandgipfel der G8 zum Anlass für radikale Gesellschaftskritik zunehmen, bedarf der zweifachen Rechtfertigung. Gegen die kritischen Kritiker allen globalisierungsbewegten Protestes gilt es den bürgerlichen Standpunkt stark zu machen: Gerade weil die Regierungschefs, die in Heiligendamm zusammenkommen, sich selber als Repräsentanten einer Volkssouveränität begreifen, ist folglich der Protest des »Volkes« gegen solche Treffen eine völlig legitime Angelegenheit. Rein formell ist er weder a priori reaktionär noch latent antisemitisch sondern vollzieht sich in Gänze innerhalb eines bürgerlich Paradigmas. Gegen die populäre Meinung innerhalb der globalisierungskritischen Bewegung, die Gipfel seien »illegitim« im Sinne von »undemokratisch«, gilt es mit Marx ebenfalls die Wirklichkeit der bürgerlichen Gesellschaft zur Kenntnis zu nehmen: Nicht einfach eine Bande von Raubrittern, sondern die Repräsentanten von Rechtsstaaten mit Verfassungen und anerkannten Legitimationsverfahren treffen dort zusammen. Als Person im juristischen Sinne können Staaten als ‘Freie‘ und ‘Gleiche‘ sich – der Logik folgend – legitimer weise auch zu informellen Treffen verabreden oder als Vertragspartner begegnen. Statt alternative Demokratie- und Rechtsmodelle zu erfinden, sollte eine emanzipative Bewegung vielmehr erkennen, dass sich Herrschaft und Ausbeutung im Kapitalismus nicht primär entgegen Recht und Demokratie sondern innerhalb dieser Formen vollziehen.

Als Rechtsstaat behandelt der bürgerliche Staat seine Staatsbürger als freie und gleiche Privateigentümer: Alle Staatsbürger sind denselben Gesetzen unterworfen und haben dieselben Rechte und Pflichten. Der Staat schützt das Privateigentum eines jeden Bürgers, unabhängig vom Ansehen der Person. Dieser Schutz besteht vor allem darin, dass die Bürger verpflichtet werden, sich wechselseitig als Privateigentümer anzuerkennen. Der Staat verhält sich den einzelnen Bürgern gegenüber tatsächlich als neutrale Instanz; diese Neutralität ist kein Schein. Gerade vermittels dieser Neutralität sichert der Staat vielmehr die Grundlagen der kapitalistischen Herrschafts- und Ausbeutungsverhältnisse. Der Schutz des Privateigentums impliziert, das diejenigen, die außer ihrer Arbeitskraft kein (relevantes) Eigentum besitzen, ihre Arbeitskraft verkaufen müssen. Um sich ihren Lebensunterhalt aneignen zu können, müssen sie sich dem Kapital unterwerfen. Diese Einsicht hat für eine Gegenmobilisierung zum G8-Gipfel weit reichende Folgen. Zu allererst ist damit die klare Absage an ökonomistische und personalisierende (Staats-)Vorstellungen verbunden: Die eine will den Staat unmittelbar als reines Werkzeug der ökonomisch herrschenden Klasse entlarven – um im Zirkelschluss die »richtige« Anwendung dieses Instruments fürs »Allgemeinwohl« zu fordern. Die andere begreift den Zustand der Welt primär als Ergebnis individuellen Fehlverhaltens einzelner Kapitalisten und Politiker, die aus Gier, Korruptheit oder fehlendem Verantwortungssinn handeln. Spielarten dieser ideologischen Formen reichen vom Anti-Amerikanismus bis hin zum antisemitischen Stereotyp. Weniger reaktionär aber ebenso problematisch verhält es sich mit der moralischen Verurteilung bestimmter Konzerne und »Multis«, deren Praktiken oft zu Recht als besonders widerlich gebrandmarkt werden. Dabei fällt aber oft die Kritik an der »ganz normalen« Ausbeutung (die alle Kapitalisten betreiben) hinten runter. Die Auffassung verkennt zudem, dass selbst die Kapitalisten durch die Konkurrenz von der sachlichen Gewalt der Kapitalverwertung getrieben sind. Der Prozess der Konzentration und Zentralisation von Kapital ist insofern ein strukturell bedingtes Moment der Kapitalakkumulation. Irrsinnig wäre es deshalb, etwa gegen die »Macht der Multis« den »fairen Wettbewerb« einzufordern oder nach dem Motto groß = böse und klein = gut das Kapital nach Sympathiewerten einzuteilen.

»[I]mmer übersetzt der Staat den objektiven Zwangscharakter der gesellschaftlichen Reproduktion in politische Form. In Zeiten von Krise und sozialer Unruhe tritt dies krude und unverbrämt zu Tage; es zeigt sich darüber hinaus in den Präventivstrategien, die darauf gerichtet sind, die Krise einzudämmen oder besser zu verwalten. Aber es gilt auch für den »Normalfall« einer friedlichen und befriedeten Reproduktion, die innerhalb und vermittels der Institutionen vor sich geht.« (Johannes Agnoli)

Rechtstaatlichkeit als spezifische Form kapitalistischer Herrschaft zu begreifen, heißt freilich nicht, im Kapitalismus würden Rechtsnorm und Rechtspraxis, Ideal und Wirklichkeit immer im Einklang stehen. Dass auf empirischer Ebene nicht nur einzelne Kapitalisten sondern auch Organe bürgerlicher Rechtsstaaten sich zum Teil illegaler Praktiken bedienen – Gammelfleisch als Frischware deklarieren, Giftmüll in Afrika verkippen, Gewerkschafter ermorden, Folter praktizieren, etc. – wird weit reichend skandalisiert. Eine politische Bewegung, die primär das kritisiert, was generell als »kriminell« gilt, bewegt sich allerdings eher auf dem Kritikniveau eines Staatsanwaltes. Der naive Trugschluss einer solchen Position freilich lautet: ‚Die Welt wäre schon in Ordnung, wenn sich nur alle an die Gesetze halten würden.‘

Um den Bock nicht zum Gärtner zu machen, muss eine materialistische Kritik weiter greifen: Der bürgerliche Staat ist nicht nur Rechtsstaat, der lediglich einen formalen Rahmen setzt und die Einhaltung dieses Rahmens durch sein Gewaltmonopol sichert. Er gewährleistet auch die allgemeinen materiellen Bedingungen der Kapitalakkumulation, sofern diese Bedingungen von den Einzelkapitalisten nicht bereitgestellt werden können. Dies reicht vom Schulsystem, über Infrastruktur bis zur kriegerischen Durchsetzung nationaler Interessen. Auch darüber sollten keine Illusionen bestehen – ohne in platten Antiimperialismus zu verfallen. Als »ideeller Gesamtkapitalist« muss der Staat zuweilen auch Maßnahmen gegen die widerstreitenden Interessen einzelner Kapitalfraktion durchsetzen, um eine generelle Kapitalakkumulation langfristig zu sichern. Durch seine strukturelle Abhängigkeit über Steuereinnahmen tut er dies zudem aus reinem Eigeninteresse, weil jeder Politiker lernt, dass ‚nur wenn es der Wirtschaft gut geht, es auch dem Staat gut gehen kann.‘ Dieser strukturelle Zusammenhang wird oft in der linken Debatte ausgeblendet, etwa wenn es um die Hoffnungen geht, die sich um bestimmte reformistische Parteien ranken. Mit ihnen mag sich in den reichen Ländern vielleicht die bescheidene Verteilung des verfügbaren Kuchens geringfügig und auf Zeit verbessern; an der Unterordnung und Gängelung der Menschen durch den (Sozial-)Staat ändert sich freilich nichts. Die befreite Gesellschaft ist nur jenseits der Formen von Staat und Kapital zu haben.

»Rational ist diejenige Phantasie, die zum Apriori werden kann, das darauf abzielt, den Produktionsapparat umzubauen und umzudirigieren in Richtung auf ein befriedetes Dasein, ein Leben ohne Angst. Und das kann niemals die Phantasie jener sein, die von den Bildern der Herrschaft und des Todes besessen sind. […] So muss die Frage noch einmal ins Auge gefasst werden: wie können die verwalteten Individuen – die ihre Verstümmelung zu ihrer eigenen Freiheit und Befriedigung gemacht haben und sie damit auf erweiterter Stufenleiter reproduzieren – sich von sich selbst wie von ihren Herren befreien?« Herbert Marcuse

‚Wie ich mich nun um dich werfe‘

Im Kapitalismus folgen die ökonomischen Akteure einer Rationalität, die ihnen durch die ökonomischen Verhältnisse selbst aufgezwungen ist. Mit der Menschheit verhält es sich wie in Goethes Zauberlehrling: Die Mächte, die gerufen wurden, um sich von der mühsamen Plackerei zu befreien – um das Überleben in einer gewaltigen Natur zu sichern – haben sich längst verselbständigt und beherrschen den Menschen. Selbst der Kapitalist ist durch das Band der Konkurrenz dazu verdammt, Profit zu machen oder unterzugehen. Im Angesicht von Krieg, Terror und der Verelendung ganzer Weltregionen steht die Zivilisation immer wieder mit Fassungslosigkeit vor den Resultaten ihrer eigenen Dynamik. Goethes alter Hexenmeister, der den bösen Zauber beendet und den Lehrling aus seiner misslichen Situation befreit, wäre in einer zeitgemäßen Lesart freilich weder der raffinierte Bourgeois noch der starke Staat. Die Fähigkeit, die Mittel einem vernünftigen Zweck unterzuordnen, oder anders gesprochen, den Menschen als Subjekt der eigenen, selbstbestimmten Geschichte einzusetzen, diese Meistergabe entspräche nicht dem »Lob der Klassengesellschaft« und deren Sachzwanglogik. Im Gegenteil: Als Sinnbild für die Aufhebung des Zwangsverhältnisses ähnelt der alte Hexenmeister vielmehr dem Marxschen Gespenst des Kommunismus. »Zeitgemäß« hieße hier allerdings, dem herrschenden Zeitgeist zu widersprechen: Gegen die Diktatur der Produktion über die Bedürfnisse, das Primat der Bedürfnisse über die Produktion einzufordern.

Aller Unvernunft zum Trotz scheint es, als sei der Kapitalismus derzeit lediglich in seinen »Normalzustand« zurückgekehrt – mit wachsenden kapitalistischen Kernen, die immer größeren Reichtum hervorbringen, und einem Armutsgürtel, dessen Größe und dessen Konstitution sich in den einzelnen Ländern erheblich unterscheiden mag. Dass täglich 14.000 Kinder an den Folgen von Hunger und Unterernährung sterben, lässt keinen Zweifel daran, wie gewalttätig sich der Kapitalismus im globalen Maßstab darstellt. Falsch wäre es jedoch, die unmittelbare Gewalt als das authentische Wesen des Kapitalismus zu begreifen. Vielmehr gilt es die Janusköpfigkeit des modernen Kapitalismus zu erkennen zwischen ursprünglicher Akkumulation, Weltordnungskrieg, und gewaltiger Krisenbeherrschung auf der einen Seite und der »zivilisierten«, rechtsförmigen Ausbeutung mit ‚Brief und Siegel‘ auf der anderen. Weder lässt sich das Eine auf das Andere reduzieren, noch sollten sie in ihrer Qualität gleichgesetzt werden. Dennoch müssen beide als zwei Seiten einer Medaille verstanden werden.

Dass selbst in den reichen Industrienationen von einer »Rückkehr der Armut«‚ dem »Prekariat« oder einer neuen »Unterschicht« gesprochen wird, verdeutlicht, dass auch hier der Kampf um die Teilhabe am gesellschaftlichen Reichtum und um die Art seiner Hervorbringung keineswegs still steht. Auf seiner Jagd nach immer höheren Profiten ist der Kapitalismus gezwungen, ständig seine Produktionsweise zu revolutionieren. Die Erschaffung einer »industriellen Reservearmee« und das Aufkündigen von »Klassenkompromissen« ist dabei keinesfalls neu in der Geschichte des Kapitalismus, auch wenn sich mit den spezifischen Veränderungen in der Produktionsweise auch die spezifischen Anforderungen an die Subjekte verändern: Während der Fordismus ganz auf den zuverlässigen Massenarbeiter setzte, der zu funktionieren hatte und sich ansonsten keinen Kopf machen musste um unternehmerische Belange, wird heute eine andere Form des abhängig Beschäftigten gefordert. Der Mensch im Neoliberalismus wird in Gänze in den Produktionsprozess eingebunden und ist mit dem Ertönen der Werksirene noch lange nicht aus dem Vertrag entlassen, den er mit seinem Unternehmer geschlossen hat. Fortbildung, Engagement für die Firma auch außerhalb der Betriebszeiten, Mitverantwortung und »flache« Hierarchien in den Unternehmen sind Stichpunkte der heutigen Diskussion. Dabei geht es vor allem um eine uneingeschränkte Identifikation der ausgebeuteten Subjekte mit der Firma. Biographien von Arbeitern, die Jahrzehnte in derselben Spelunke ihre Brötchen verdienen müssen, werden in Zukunft selten werden. Der neoliberale Mensch muss »Rennen, rackern, rasen« und »fit, flexibel, fantastisch« sein, um den Marktanforderungen gerecht zu werden. Wer diesen Kriterien nicht entspricht, wird sich in Zukunft auf ein Leben am Existenzminimum einstellen müssen. Das Diktat lautet, sein Leben voll und ganz darauf auszurichten, zu jeder Zeit und an jedem Ort für die kapitalistische Verwertung einsetzbar zu sein.

»Wir behaupten nicht, das Monopol auf die Intelligenz zu haben, wohl aber auf deren Anwendung. Unsere Position ist eine strategische – wir stehen im Mittelpunkt jeden Konflikts. Das Qualitative ist unsere Force de Frappe.« Situationistische Internationale

[Organize]

Die in der G8 Mobilisierung häufig konstatierten »Risse in einer neoliberalen Hegemonie« erscheinen dagegen eher als Betriebsgeräusch der kapitalistischen Verwertungsmaschinerie, als dass sich hier ein Ausstieg aus dem kapitalistischen Irrsinn abzeichnen würde. Wer nicht Islamisten, Neonazis, landlose Bauern, Hartz IV-Protestler und Schwarzfahrer zu einer subversiven Masse verwursten will – und sie dadurch gleich macht, weil sie irgendwie alle etwas gegen ‚Neoliberalismus‘ haben – dessen Bilanz muss nüchtern ausfallen. Die Widersprüche im Kapitalismus sind zwar täglich erfahrbar, als komplexes gesellschaftliches Herrschaftsverhältnis entzieht sich der Kapitalismus aber dem unmittelbaren Alltagsbewusstsein. Radikalität in die Auseinandersetzungen um die G8 einzubringen, zielt deshalb auf mehr ab, als auf die zum Ritual verkommende Geste. Statt alles der Strategie unterzuordnen, geht es der Radikalität um die adäquate Erkenntnis gesellschaftlicher Herrschaft und um die Bestimmung deren vernünftiger Aufhebung. Der »Sprung ins Reich der Freiheit« setzt den selbstreflexiven Bruch mit dem sozialdemokratischen Heilsversprechen ebenso voraus wie mit dem Glauben an einen historischen Automatismus, dem zur Folge der Kapitalismus ‚aus sich selbst heraus‘ notwendig zusammenbrechen müsse.

Und doch bleibt festzuhalten: Der Kapitalismus ist ein gesellschaftliches Verhältnis – von Menschen hervorgebracht – und als solches auch von den Menschen überwindbar. Die Kritik an den kapitalistischen Produktionsverhältnissen muss insofern aber auch eine Kritik an den ideologischen Denkformen sein, in denen sich das historisch Gewordene und gesellschaftlich Hervorgebrachte in den Köpfen der Menschen zum scheinbar Ursprünglichen, Natürlichen oder Göttlichen verkehrt und verselbständigt. Für die Mobilisierung zu den G8-Protesten bedeutet dies, der rechts- und linksruck bewegten Raserei gegen das Abstrakte ebenso eine klare Absage zu erteilen wie den Sinnstiftungen von »Volk« und »Nation«, »Religion« und »Kultur«. Gilt es die bürgerlichen Werte gegen jeden Rückfall in die Barbarei zu verteidigen, wäre es freilich ebenso falsch, diese affirmativ zu verklären oder sich in neokonservativer Manier der Herrschaftskritik zu entledigen. Das hieße, das Kind mit dem Bade auszugießen.
So naiv es heute auch erscheint, von Revolution zu sprechen, so viel dümmer ist es doch, seine ganzen Fähigkeiten darauf zu verschwenden, sich mit dem schlechten Bestehenden zu arrangieren, wo die globale Entwicklung des Kapitalismus jeder Bestimmung vernünftiger Zwecke spottet. Nicht, weil die Gruppe der Acht das personifizierte Böse ist, sondern gerade weil Herrschaft im Kapitalismus im Grunde weder Namen noch Adresse hat, sollte der G8-Gipfel zum Anlass genommen werden, um mit der Kapitalismuskritik aufs Ganze zu gehen. Denn der ‚richtige Ort‘ für antikapitalistischen Widerstand ist nie unmittelbar gegeben. Die »Richtigkeit« bestimmt sich ausschließlich in dem Maße, in dem aus der Erfahrung gesellschaftlicher Widersprüche die Einsicht in die Notwendigkeit erwächst, »alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist.«